DUP UNTERNEHMER-Magazin: Deutschland steckt im dritten Rezessionsjahr. Viele Unternehmen investieren kaum noch. Wie gelingt es Adesso, weiter zweistellig zu wachsen?
Mark Lohweber: Wir befinden uns da in einer Sondersituation. Wir sind vollständig auf Digitalisierung ausgerichtet – das ist unsere Kerndomäne. Da ist der negative Druck nicht so hoch. Wir haben im letzten Jahr ein zweistelliges Wachstum geschafft und werden das auch in diesem Jahr erreichen. Und das, obwohl unser Kernmarkt Deutschland ist und dieser sich, wie Sie sagen, im dritten Jahr der Rezession befindet. Natürlich spüren auch wir, dass unsere Kunden teilweise vorsichtiger werden. Aber wenn das Wachstum immer noch zweistellig ist, ist das Klagen auf sehr hohem Niveau.
Was bedeutet die geopolitische Lage für Ihre Arbeit – werden Sie von Kunden anders wahrgenommen?
Lohweber: Ja, das hat sich verändert. Unsere Kunden, die bisher ganz selbstverständlich amerikanische Plattformen wie Microsoft Azure, AWS oder Google Cloud genutzt haben, fragen heute deutlich bewusster: Wen wähle ich als Dienstleister? Kann ich nicht wenigstens mit einem europäischen Partner arbeiten? Das führt dazu, dass sich viele Kunden gezielt für einen Anbieter wie uns entscheiden. Man spürt eine starke Rückbesinnung auf lokale Anbieter. Die geopolitische Lage spielt uns da eher in die Karten.
Aber komplett unabhängig wird Europa von den USA in der IT nicht – oder doch?
Lohweber: Nein, das ist auch gar nicht realistisch. Wenn man sachlich bleibt, erkennt man schnell: Es gibt im Moment keine Möglichkeit, sich vollständig von amerikanischen Technologien zu lösen. Und das wird sich auf Jahre nicht ändern. Ich vergleiche das manchmal mit der Nato. Wir können uns eine Unabhängigkeit vornehmen, doch das wird zehn Jahre oder länger dauern. Was wir aber tun können, ist, die totale Abhängigkeit zu reduzieren. Genau da setzen wir an. Wir helfen unseren Kunden dabei, ihre Systeme so auszurichten, dass sie robuster werden –
durch sinnvolle Architekturkonzepte, durch Härten von Systemen, durch mehr Kontrolle über Datenflüsse. Nicht ideologisch, sondern pragmatisch.
Viele Unternehmen klagen über Kontrollverlust, wenn sie auf US-Plattformen setzen. Wie begegnen Sie dieser Sorge?
Lohweber: Wir sagen ganz offen: Die zentrale Frage ist nicht, ob ich mich unabhängig machen kann, sondern, wie viel Abhängigkeit ich aushalten will. Niemand wird komplett autark. Aber es gibt Gestaltungsspielräume. Wir entwickeln mit unseren Kunden Konzepte, die zur jeweiligen Anwendungslandschaft passen. Das kann bei einer Krankenkasse etwas ganz anderes bedeuten als bei einem Maschinenbauer. Souveränität heißt für uns: handlungsfähig bleiben.
Adesso wächst kontinuierlich, auch international. Wie stellen Sie sicher, dass Ihre Unternehmenskultur dabei nicht auf der Strecke bleibt?
Lohweber: Wir wachsen nach dem Prinzip der Zellteilung. Das bedeutet: Wir bauen neue Einheiten nicht durch große Zukäufe auf, sondern durch unsere eigenen Leute. Mitarbeitende, die die Kultur von Adesso kennen, übernehmen Verantwortung, gründen neue Standorte, führen neue Teams. So tragen sie unsere DNA weiter. Gleichzeitig haben wir uns einen Culture-Code gegeben – aber nicht als Poster in der Kantine. Wir haben als Vorstand das Gespräch mit den Mitarbeitenden gesucht, über diesen Code gesprochen, Fragen gestellt, zugehört. Das war uns wichtig.
Und wenn es doch mal nicht funktioniert?
Lohweber: Dann steuern wir gegen. Ich habe gelernt: Wächst das Unternehmen, ist viel zusätzlicher persönlicher Dialog nötig. Es gibt so viele Missverständnisse zwischen Headquarter, Landesgesellschaften oder auch neuen Unternehmensteilen, die sich nur durch reden auflösen lassen. Es gibt Akquisitionen, bei denen die Integration nicht auf Anhieb gelungen ist. Da haben wir gemerkt: Das ist die alte Firma mit neuem Logo, aber nicht wirklich Adesso. Das akzeptieren wir nicht. Wir wollen kein bloßes Rebranding, sondern Identität. Und die entsteht nicht durch Prozesse, sondern durch Menschen. Deswegen investieren wir viel in Kommunikation – national wie international.
Wie meinen Sie das konkret?
Lohweber: Ein Beispiel: In Italien sind die Tagessätze für IT-Fachkräfte deutlich niedriger als in Deutschland. Wenn du das liest, fragst du dich: Woran liegt das? Wenn du mit den Leuten sprichst, kommt heraus, dass viele junge Entwickler dort noch zu Hause wohnen, weniger verdienen, andere Lebensmodelle haben. Und umgekehrt: Wenn wir in Deutschland sagen, ihr sollt Adesso sein, verstehen viele im Ausland sofort: „Ihr wollt, dass wir eure Zahlen erfüllen.“ Aber das meinen wir gar nicht. Wir meinen Haltung, Stil, Qualität. Diese Unterschiede müssen aktiv moderiert werden – sonst entstehen Konflikte.
Wie gewährleisten Sie bei Nearshore- oder Offshore-Standorten wie in Indien die gleiche Qualität wie in Deutschland?
Lohweber: Indem wir keine Trennung machen. Unsere indischen Kolleginnen und Kollegen sind keine anonyme Ressource, sondern Teil unserer deutschen Teams. Wir senden Mitarbeitende aus Deutschland nach Indien und umgekehrt. Wir achten darauf, dass der kulturelle Brückenschlag gelingt. Allen ist klar: Was aus Indien kommt, ist technisch sehr stark – aber es muss in Deutschland in die Kundensprache übersetzt werden. Und das passiert nicht anonym, sondern im Team. Deswegen haben wir dort eine sehr niedrige Fluktuation. Die Leute bleiben, weil sie sich eingebunden fühlen.
Wie verändert sich Ihre Rolle als Dienstleister, wenn Unternehmen nicht mehr nur Umsetzer suchen, sondern strategische Partner?
Lohweber: Ganz erheblich. Früher war klar: Der Kunde definiert ein Projekt, wir setzen um. Heute erwartet er von uns, dass wir Verantwortung übernehmen. Dass wir einen Budgetrahmen einhalten, auch wenn sich Anforderungen ändern. Das geht nur, wenn wir selbst unternehmerisches Risiko tragen. Das ist eine neue Realität, auf die wir uns eingestellt haben. Gleichzeitig sehen wir, dass der Mittelstand – insbesondere der produzierende – näher an uns heranrückt. Die klassische Trennung zwischen Maschinensteuerung und Informationssystemen löst sich auf. Die Erwartungshaltung verändert sich. Und wir werden Teil davon.
Ein großes Thema ist der Einsatz generativer KI. Wie verändert das Ihre Arbeit?
Lohweber: Wir sehen uns beim produktiven Einsatz von KI als Vorreiter. Nicht bei Spielereien oder Prototypen, sondern bei echten produktiven Anwendungen. Wir nutzen Copilot bereits im Standard. Und wir gehen jetzt mit ersten Kunden den Weg, große Softwareprojekte KI-basiert umzusetzen –
mit allem, was dazugehört: Code, Testkonzepte, Dokumentation. Aber ich sage auch ganz klar: Es ist noch ein gutes Stück zu gehen. Die Integration der Technologie in die Prozesse ist komplex. KI ist kein Ersatz, sondern ein Werkzeug. Der Output muss beherrscht werden. Und das bedeutet oft: mehr Arbeit für hoch qualifizierte Entwickler.
Führt KI wirklich nicht zu weniger, sondern zu mehr Aufwand?
Lohweber: Wir glauben nicht, dass der Bedarf an Menschen sinkt – eher das Gegenteil. Die Kunden werden leistungsfähigere Software verlangen. Sie wollen schneller, mehr, robuster. Das erhöht die Anforderungen. Und was viele vergessen: Wenn heute mit KI Code generiert wird, muss dieser auch verstanden, dokumentiert und gewartet werden können. Große Code-Mengen bergen große Risiken – da darf man sich nichts vormachen.
Und was ist mit Regulierung? Bremst das die Entwicklung?
Lohweber: Regulatorische Anforderungen sind kein echter Hinderungsgrund – aber ein häufiger Vorwand. In der Praxis bauen wir Architekturen so, dass KI-Komponenten austauschbar sind. Weil niemand heute weiß, ob das, was wir jetzt einbauen, in zwei oder drei Jahren noch relevant ist. Vielleicht setzt sich eine europäische Lösung durch, vielleicht eine branchenspezifische. Deshalb sagen wir: KI ja – aber mit einem realistischen Plan B.
Was treibt Sie persönlich an?
Lohweber: Ich will zeigen, dass wir als deutsches Unternehmen mit Sitz in Deutschland in der Lage sind, eine relevante Rolle in der digitalen Welt zu spielen – nicht als Exot, sondern als selbstbewusster Partner. Wir möchten gemeinsam mit Unternehmen und Organisationen die digitale Zukunft Deutschlands und Europas gestalten. Uns geht es nicht darum, zum Mond zu fliegen. Sondern darum, Unternehmen, die hier tief verwurzelt sind, in die Zukunft zu führen – verlässlich, realistisch, mit Haltung.

