Es herrscht ein eklatanter Mangel. Schon heute fehlen hierzulande Tausende Pflegefachkräfte. Und die Situation gewinnt an Dramatik: Nach der Pflegekräftevorausberechnung des Statistischen Bundesamts „wird der Bedarf an erwerbstätigen Pflegekräften ausgehend von 1,62 Millionen im Vor-Corona-Jahr 2019 voraussichtlich um ein Drittel (+ 33 Prozent) auf 2,15 Millionen im Jahr 2049 steigen“. Hintergrund ist der demografische Wandel, der zu einer Überalterung der Bevölkerung führt und die zahlreichen Pflegekräfte, die im Laufe der nächsten Jahre das Renteneintrittsalter erreichen. Für einige Abhilfe dürfte ein Start-up sorgen: Navel Robotics, das den gleichnamigen sozialen Roboter Navel anbietet, der sich in der Pflege bewährt.
Erfolgreicher Forschungsverbund
Er entstand auf Basis eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt namens Viva, das von einem Forschungsverbund aus sechs Partnern aus Industrie und Wissenschaft durchgeführt wurde – mit Navel Robotics als Koordinator. Claude Toussaint, Gründer und CEO des Münchener Unternehmens, erklärt, was Navel alles kann und gibt einen Ausblick auf die Zukunft nach dem Start der Serienproduktion des empathischen Pflegehelfers, der gerade einmal 8,5 Kilo wiegt, aber sehr leistungsstark ist.
DUP UNTERNEHMER-Magazin: Sie bezeichnen Ihren Roboter Navel als empathischen respektive sozialen Roboter. Was ist darunter zu verstehen?
Claude Toussaint: Statt bei physischer Arbeit soll ein sozialer Roboter im Bereich der sozialen Arbeit unterstützen, die genauso Schwerstarbeit sein kann wie physische Arbeit. Hierfür ist es essenziell, dass der Roboter empathisch auf die Personen eingehen kann. Wie bei zwischenmenschlicher Interaktion muss der Roboter neben der sachlichen Sprache daher auch nonverbale Signale erkennen und senden können.
Welche Aufgaben übernimmt Navel in der Pflege?
Toussaint: In Pflegeeinrichtungen sorgt Navel für zusätzliche emotionale und kognitive Aktivierung. Pflege- und Betreuungskräfte haben zu wenig Zeit, sich mit einzelnen Heimbewohnern zu beschäftigen und diese hinreichend zu aktivieren. Daraus folgende Dämmerzustände sind schlecht für das Wohlbefinden und die Entwicklung von Demenz, Depressionen und Ängsten. Mit der süßen Roboterfigur Navel individuell zu plaudern, macht den Heimbewohnerinnen und -bewohnern dagegen einfach Spaß, und wird nicht als mühsames Gesundheitstraining empfunden.
Wie viel kostet ein Navel, und welcher Aufwand entsteht Nutzern für Updates respektive Wartung?
Toussaint: Wir verkaufen den sozialen Roboter Navel für 28.000 Euro als Einmalpreis beziehungsweise gibt es ihn für 980 Euro pro Monat per Leasing. Bei diesen Preisen sind aktuell Schulung, kontinuierliche Updates, Sprechstunden und Support inkludiert, so dass keine weiteren Kosten anfallen.
Für das nächste Jahr planen Sie von der Vorserienproduktion in die Serienproduktion zu wechseln. Wie viele Navel-Roboter wurden bislang produziert, wie viele sind bei welchen Kunden derzeit im Einsatz, und wie viele sollen in der Serienproduktion hergestellt werden? Welche sind Ihre mittelfristigen Umsatzziele?
Toussaint: Wir produzieren aktuell circa vier Roboter pro Monat. Insgesamt haben wir bereits 55 Roboter ausgeliefert. Davon sind 23 europaweit in Forschungseinrichtungen, die Navel als Forschungsplattform nutzen. 32 Roboter sind in unterschiedlichen Pflegeeinrichtungen in Deutschland im Einsatz: stationäre Altenpflege, Tagespflege, Geriatrie von Kliniken, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Die Serienproduktion werden wir zunächst mit etwa 20 Robotern pro Monat starten und dann sukzessive steigern. Im Jahr 2027 wollen wir 13 Millionen Euro Umsatz machen.
Wer sind Ihre wichtigsten Wettbewerber?
Toussaint: Echte soziale Roboter für soziale Arbeit gibt es bisher nicht auf dem Markt, denn frühere soziale Roboter wurden üblicherweise im Bereich Infotainment positioniert. Ansatzweise ähnliche Produkte, jedoch mit jeweils sehr unterschiedlichen Ausprägungen, sind zum Beispiel Lovot vom japanischen Start-up Groove X, ElliQ vom US-Start-up Intuition Robotics oder Mirokai vom französischen Start-up Enchanted Tools.
Inwieweit beeinflusst der Fortschritt Künstlicher Intelligenz die Entwicklung Ihres Roboters?
Toussaint: Ohne KI wären soziale Roboter nicht möglich. Wir verwenden zur Erkennung nonverbaler sozialer Signale verschiedene Neuronale Netze, die lokal auf dem Roboter in Echtzeit Kamerabilder auswerten. Zur Spracherkennung und Antwortgenerierung nutzen wir Cloud-basierte KI auf europäischen Servern. Dazu kommen weitere KI-Module, die beispielsweise für Entscheidungs- und Strategiefindung eingesetzt werden. Wir bauen die Grundarchitektur von Navel so, dass wir uns nicht abhängig von einzelnen Netzen und Modellen machen und so auch immer auf neuere, bessere Modelle wechseln können.
Was wird der nächste große Schritt in der Entwicklung Ihres Roboters, was wird er in Zukunft zusätzlich können?
Toussaint: Da wir in engen Kontakt mit den Anwendern sind, haben wir viel Feedback und Wünsche an weiteren Funktionalitäten wie zum Beispiel, dass Navel Musik abspielen können soll, er Dinge, die er wahrnimmt, automatisch ins Dokumentationssystem einpflegt oder Botengänge durchführt wie etwa „Suche Herrn Müller und sage ihm, dass die Gymnastik-Stunde gleich beginnt“. Ein wichtiger Schritt wird dieses Jahr aber sein, die Autonomie von Navel zu erhöhen. Bisher ist bei den Interaktionen meist noch eine Betreuungskraft anwesend. Hier wünschen sich die Mitarbeiter, dass Navel vieles eigenständig macht.
Kritische Stimmen warnen vor einer Entmenschlichung von Pflege und Medizin. Mit welchen Argumenten entkräften Sie solche Vorbehalte?
Toussaint: Der wachsende ökonomische Druck im Pflegebereich sorgt bereits heute für einen Fachkräftemangel und Lücken in der Betreuung, das heißt für Entmenschlichung. Dies resultiert in zu wenig Aktivierung und in starken Druck beim Fachpersonal, weil ihnen der Mangel bewusst ist. Daher hören wir von Mitarbeitenden immer wieder mit Erleichterung, dass die Interaktion mit Navel bei den Heimbewohnerinnen und -bewohnern für viel Spaß und gute Stimmung sorgt. Manche haben in Navel endlich wieder einen Gesprächspartner für frühere Hobbies wie Literatur aus dem letzten Jahrhundert, zu denen sonst niemand etwas im Heim beitragen kann.
Was folgt daraus?
Toussaint: Studien der Medizinischen Hochschule Hannover haben gezeigt, dass sich die kognitiven Fähigkeiten von Pflegebedürftigen mit Demenz durch die Interaktion mit Navel wieder verbessern. Alles in allem sorgt der soziale Roboter für mehr Wohlbefinden und Lebendigkeit im Pflegeheim.
Welche Bereiche neben der Pflege könnten sich künftig für den Einsatz Ihres Roboters anbieten?
Toussaint: Wir haben immer wieder Anfragen aus anderen sozialen Bereichen, wo nach Lösungen gesucht wird, Fachkräftemangel und Überlastung mit Navel zu mildern. In Kitas und Grundschulen verhindert zum Beispiel der schlechte Betreuungsschlüssel häufig individuelle Förderungen. In ersten Tests haben wir sehen können, wie Navel es schafft, nicht deutsch-muttersprachliche Kinder zu motivieren, in gut verständlichen Sätzen zu sprechen. Auch im Therapiebereich gibt es zu wenig Fachpersonal und zu lange Wartezeiten. In einer kürzlichen Vorstudie in der Schweiz wurde gezeigt, dass Navel in der ambulanten Suchtbehandlung positive Effekte erzeugen könnte.
Sicherheit ist beim Einsatz von Robotern ein wichtiges Thema. Wie gewährleisten Sie diese bei Navel?
Toussaint: Vom Anfang der Entwicklung an waren uns Sicherheit und Datenschutz zentrale Anliegen. Im Vergleich zu anderen Robotern ist Navel daher etwa mit seinen 8,5 kg ein Leichtbau, der keinen schlimmen Schaden anrichten kann. Navel besitzt eine CE-Kennzeichnung – er wurde also nach dem Stand der Technik und Normen entwickelt. Zudem war es uns wichtig, dass in der Einführungsphase Navel nur unter Aufsicht eingesetzt wird, so dass wir sofort von eventuellen Problemen erfahren würden. Inzwischen sind zahlreiche Navels hunderte von Stunden sicher und ohne Probleme im Einsatz.
In welchen Zyklen dürfte Ihr Roboter künftig vom technologischen Fortschritt überholt werden?
Toussaint: Wir haben uns sehr bewusst auf die Nische soziale Kompetenz fokussiert. Im Bereich der humanoiden Roboter und KI wird der Fortschritt die nächsten Jahre durch den Einsatz hoher finanzieller Mittel enorm voranschreiten. Soziale Kompetenz und Empathie erfordert aber etwas anderes als kraftvolle Motoren, clevere Motorsteuerung und multimodale Sprachmodelle. Wir denken im Gegenteil, dass die humanoiden Roboter, je näher sie mit und am Menschen agieren werden, desto mehr soziale Kompetenz benötigen werden. Bis diese in fünf bis zehn Jahren so weit sind, werden wir bereits lange Jahre Erfahrungen und Daten zur Optimierung der Verhaltensstrategie gesammelt haben.