Die COVID-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben die Verletzlichkeit globaler Lieferketten schonungslos offengelegt. Gleichzeitig zwingt der geopolitische Systemwettbewerb mit China Unternehmen dazu, ihre Standorte neu zu bewerten. Die Antwort: Nearshoring und Reshoring – also die (teilweise) Rückverlagerung von Produktionsprozessen in eigene oder benachbarte Länder.
Laut einer Studie des Capgemini Research Institute haben bereits 56 Prozent der großen europäischen und US-amerikanischen Unternehmen in Re- oder Nearshoring investiert. In den nächsten drei Jahren planen sogar über 70 Prozent, große Teile ihrer Fertigung näher an ihre Heimatmärkte zu verlegen. Das ist mehr als ein Trend – es ist ein fundamentaler Umbau der globalen Wertschöpfung.
Wer konkret investiert – und warum
Die Zahl prominenter Rückverlagerungen wächst stetig. So errichtet der taiwanesische Elektronikkonzern Quanta Computer im nordrhein-westfälischen Jülich ein neues Hightech-Werk mit über 22.000 Quadratmetern Produktionsfläche – für rund 45 Millionen Euro. Ziel ist es, näher an europäischen Kunden zu produzieren und die technologische Souveränität vor Ort zu stärken.
Auch der US-Chipgigant Intel setzt auf Europa: In Wrocław (Polen) entsteht ein Montage- und Testzentrum für Halbleiter mit einem Volumen von 4,6 Milliarden Euro. Ergänzt wird dieses Projekt durch das geplante Großwerk in Magdeburg. Zusammen bilden sie einen neuen europäischen Halbleiter-Cluster – ein Symbol für Europas Bestreben, im Tech-Bereich unabhängiger zu werden.
Im Automobilsektor investiert BMW mehrere Milliarden Euro in ein neues Werk im ungarischen Debrecen. Teile der Fertigung wandern zudem nach Tschechien. Der Standortvorteil liegt in der Kombination aus niedrigeren Lohnkosten, qualifizierten Fachkräften und der Nähe zu den Kernmärkten der EU.
Auch Bosch baut seine Produktion in Ungarn und der Slowakei aus – ein strategischer Schritt, um sich unabhängiger von asiatischen Zulieferern zu machen und die Flexibilität gegenüber europäischen Kunden zu erhöhen.
Selbst in der Textilbranche zeichnet sich ein Kurswechsel ab: Die Zara-Mutter Inditex verlagert wieder größere Teile der Produktion nach Spanien und Portugal. Der Vorteil: kürzere Reaktionszeiten auf Modetrends – ein Paradebeispiel für erfolgreiches Nearshoring.
Die Zahlen sprechen für sich
Zwischen 2021 und 2024 flossen bereits rund 2.400 Milliarden US-Dollar in Re- oder Nearshoring-Initiativen. Bis 2027 sollen laut Capgemini weitere 3.400 Milliarden US-Dollar hinzukommen. Diese Summen zeigen, dass Reindustrialisierung weit mehr ist als politische Rhetorik – sie ist realwirtschaftlich messbar.
Auch der Arbeitsmarkt profitiert: Seit 2021 entstanden mehr als 3,2 Millionen neue Industriearbeitsplätze in Europa. Besonders dynamisch entwickelt sich der Bereich „grüner Fabriken“: Über 40 Prozent der neuen Werke arbeiten bereits mit erneuerbaren Energien – ein klares Signal für den Wandel hin zu nachhaltiger Industrieproduktion.
Regionale Hotspots: Wo Reindustrialisierung stattfindet
Die Reindustrialisierung Europas ist regional klar konturiert. In Mitteleuropa – etwa in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn – profitieren Unternehmen von gut ausgebildeten Fachkräften, niedrigen Kosten, EU-Fördermitteln und der Nähe zu den westlichen Absatzmärkten.
Südwesteuropa, vor allem Spanien, Portugal und Bulgarien, wird für Branchen wie Textil, Möbel oder Lebensmittel immer interessanter. Dort punktet man mit kurzen Lieferzeiten, hoher Flexibilität und wachsender lokaler Expertise.
Deutschland und Frankreich bleiben die industriellen Schwergewichte des Kontinents. Hier entstehen insbesondere Hightech- und Maschinenbauprojekte sowie große Halbleiterstandorte. Auch viele mittelständische Hidden Champions investieren erneut vor Ort – begünstigt durch Programme wie den EU Chips Act oder den Green Deal Industrial Plan.
Was Unternehmen jetzt bedenken müssen
So groß die Chancen sind: Die Rückverlagerung von Produktion ist kein Selbstläufer. Sie verlangt Kapital, Know-how, Zeit – und die Bereitschaft, komplexe Entscheidungen zu treffen. Welche Standorte lohnen sich wirklich? Welche Förderprogramme greifen? Und wie lassen sich moderne, digitalisierte und nachhaltige Fertigungsmodelle sinnvoll implementieren?
Wer frühzeitig investiert, kann sich einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil sichern. Gerade der Mittelstand hat hier eine besondere Rolle: Mit ihrer Innovationskraft, Flexibilität und Nähe zum Kunden können kleinere Unternehmen Strukturen aufbauen, die widerstandsfähiger gegenüber globalen Störungen sind.
„Made in Europe“ ist zurück
Die Reindustrialisierung ist kein Rückschritt, sondern ein zukunftsgerichteter Umbau. Unternehmen, die jetzt handeln, stärken nicht nur ihre eigene Resilienz, sondern auch die wirtschaftliche Souveränität Europas. „Made in Europe“ steht heute weniger für Massenproduktion als für Qualität, Sicherheit, Nachhaltigkeit – und für die strategische Rückkehr der Industrie als Motor unseres Wohlstands.
