Zukunftstechnologie

Wie digitale Zwillinge Therapie und Diagnose verändern

Ein virtuelles Abbild des Menschen – das klingt nach Science-Fiction, wird in der Medizin aber zunehmend Realität. Digitale Zwillinge eröffnen Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit, Diagnosen zu simulieren, Therapien zu testen und Krankheitsverläufe vorherzusagen – ganz ohne Risiko für die echten Patientinnen und Patienten. Im Gespräch erklärt Longevity-Experte Gerd Wirtz, wo die Technologie heute schon eingesetzt wird, welche Chancen und Risiken bestehen und warum Vertrauen der Schlüssel zum Erfolg ist.

Zwei Ärtzinnen, die an einem Hologram arbeiten, als Symbol für den Digitalen Zwilling in der Medizin

08.09.2025

DUP UNTERNEHMER-Magazin: Der Begriff „Digitaler Zwilling“ klingt zunächst nach Industrie 4.0 – was verbirgt sich dahinter im medizinischen Kontext?

Dr. Gerd Wirtz: Im medizinischen Kontext ist ein digitaler Zwilling ein virtuelles Abbild des Gesundheitszustands eines Menschen. Grundlage sind Daten wie MRT-Bilder, Laborwerte oder Informationen aus Apps und Wearables. Daraus entsteht ein Computermodell, an dem Ärztinnen und Ärzte Diagnosen simulieren, Therapien austesten und Krankheitsverläufe vorhersagen können – ohne Risiko für die echte Patientin oder den echten Patienten.

In welchen Bereichen der Medizin kommen digitale Zwillinge heute schon konkret zum Einsatz? Können Sie ein Beispiel nennen?

Wirtz: Ein sehr konkretes Beispiel ist die Strahlenklinik am Universitätsklinikum Erlangen. Dort wird vor einer Tumorbestrahlung zunächst am digitalen Zwilling simuliert, wie die optimale Therapie aussehen könnte. Erst wenn das virtuelle Modell überzeugt, startet die reale Behandlung. Auch bei chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose laufen bereits Projekte, etwa an der TU Dresden, wo Krankheitsverläufe mit digitalen Zwillingen prognostiziert werden.
Darüber hinaus werden digitale Zwillinge in der Arzneimittelentwicklung eingesetzt. Virtuelle Patienten helfen dabei, Wirkprinzipien neuer Medikamente frühzeitig zu testen. Das verkürzt die Entwicklungszeit und erhöht die Sicherheit, da zunächst nicht an Menschen getestet werden muss.

Was versprechen sich Ärztinnen und Ärzte von dieser Technologie? Geht es nur um Effizienz oder auch um bessere Therapieergebnisse?

Wirtz: Es geht in erster Linie um bessere und individuellere Therapien. Digitale Zwillinge ermöglichen personalisierte Medizin: Statt nur nach Leitlinien zu behandeln, können Ärztinnen und Ärzte Therapien exakt auf den einzelnen Menschen zuschneiden. Nebenwirkungen lassen sich reduzieren, weil Dosierungen und Wirkstoffe zuvor virtuell getestet werden. Am Ende zählt: Die Patientin oder der Patient bekommt die bestmögliche Behandlung.

Digitale Zwillinge basieren auf hochsensiblen Daten. Wie lässt sich Datensicherheit gewährleisten?

Wirtz: Datensicherheit ist eine der größten Herausforderungen. Technisch ist eine Absicherung möglich, etwa durch verschlüsselte Speicherung, Pseudonymisierung oder den Einsatz von Datentreuhändern. Aber reine Technik reicht nicht. Es braucht klare gesetzliche Rahmenbedingungen, Transparenz über die Datennutzung und ein hohes Maß an Vertrauen seitens der Patientinnen und Patienten.

Sie sprechen oft von Vertrauen als Erfolgsfaktor. Was braucht es, damit Patientinnen und Patienten diesen digitalen Modellen vertrauen?

Wirtz: Vertrauen entsteht, wenn zwei Dinge erfüllt sind: Transparenz und erlebbarer Nutzen. Die Betroffenen müssen nachvollziehen können, wie das System zu einer Empfehlung kommt. Und sie müssen erleben, dass die Behandlung mit digitalem Zwilling besser funktioniert als ohne. Gelingt das, wächst Vertrauen ganz von selbst.

Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass durch fehlerhafte Daten oder Algorithmen falsche medizinische Entscheidungen getroffen werden könnten?

Wirtz: Dieses Risiko existiert, und es wäre naiv, es zu leugnen. Falsche Daten oder verzerrte Algorithmen können zu Fehlentscheidungen führen. Ein digitaler Zwilling ist deshalb immer als Werkzeug zu verstehen, das Ärztinnen und Ärzte unterstützt. Die Verantwortung bleibt am Ende bei den behandelnden Fachleuten.

Könnten digitale Zwillinge bestehende Ungleichheiten im Gesundheitssystem verschärfen – oder eher helfen, sie abzubauen?

Wirtz: Das hängt davon ab, wie wir die Technologie einsetzen. Wenn nur große Unikliniken oder Privatkliniken Zugang haben, vergrößert sich die Schere. Achten wir aber von Beginn an auf breite Verfügbarkeit, können digitale Zwillinge die Versorgung gerechter machen – zum Beispiel, indem sie auch in strukturschwachen Regionen Diagnosen unterstützen.

Was muss passieren, damit digitale Zwillinge ihren Weg in die Regelversorgung finden?

Wirtz: Wir brauchen drei Dinge: eine verlässliche Dateninfrastruktur, klare gesetzliche Regeln und die Integration in den medizinischen Alltag. Ärztinnen und Ärzte dürfen nicht zusätzlich belastet, sondern müssen entlastet werden. Und: Wir brauchen gesellschaftliche Akzeptanz. Wenn Politik, Forschung und Gesundheitswesen hier gemeinsam vorangehen, kann aus einer Pilotidee ein fester Bestandteil der Versorgung werden.

Dr. Gerd Wirtz

ist Neurophysiologe, Medizinmoderator, Bestsellerautor und gefragter Keynote Speaker. Er gilt als einer der führenden Experten für Digital Health und Longevity. In seiner Longevity-Beratung und in Seminaren sowie Coachings vermittelt er wissenschaftlich fundierte Strategien, um Gesundheit zu erhalten, die Lebensspanne zu verlängern und die Lebensqualität zu steigern. Sein aktuelles Buch „Der Longevity Kompass“ bietet praxisnahe Tipps für ein langes, gesundes Leben. Seine besondere Stärke: komplexe medizinische Inhalte unterhaltsam, verständlich und praxisnah zu erklären – ob auf der Bühne, im Podcast oder im persönlichen Coaching.