DUP UNTERNEHMER-Magazin: Herr Kolev, in der Branche hört man oft, dass viele Ärztinnen und Ärzte bereits heimlich KI-Tools wie ChatGPT nutzen. Was sagt das über den tatsächlichen Bedarf im Praxisalltag aus?
Nikolay Kolev: Shadow AI ist ein faszinierendes Phänomen. Wir haben kürzlich durch ein externes Institut eine Umfrage unter über 400 Gesundheitsfachkräften durchgeführt: 50 % der Ärztinnen und Ärzte antworteten, dass sie KI-Tools wie ChatGPT für berufliche Zwecke nutzen, vor allem für Recherche.
Das zeigt uns: Der Bedarf ist riesig und die Fachkräfte sind offen, die Technologie und KI zu nutzen. Wenn eine Gesundheitsfachkraft mehr als einen halben Tag pro Woche rein mit Verwaltungsarbeit verbringt, wofür sie nicht ausgebildet wurde, dann ist das in Anbetracht des aktuellen Zustandes des Gesundheitssystems nicht hinnehmbar. Diese Schatten-KI-Nutzung ist eigentlich ein Hilferuf nach professionellen Tools.
Gleichzeitig birgt diese „Shadow-AI“-Nutzung Risiken, etwa beim Datenschutz oder bei der Integration in Abläufe. Wie groß schätzen Sie diese Herausforderungen ein?
Kolev: Ja, darum brauchen wir Tools, die stets höchsten Standards entsprechen. Im Gesundheitswesen haben wir strenge Zertifizierungsstandards – ohne entsprechende Testate und Zertifikate können wir Produkte nicht auf den Markt bringen, und das ist auch gut und richtig so. Wir investieren massiv in Datenschutz und Datensicherheit: Wir setzen auf Compliance, haben Datenschutzbeauftragte und 24/7-Überwachung unserer Systeme. Die Herausforderung liegt darin, Schutz und Sicherheit mit Benutzerfreundlichkeit zu verbinden.
Doctolib will genau hier ansetzen. Was ist die Idee hinter Ihrem neuen Praxismanagementsystem mit KI-basierten Funktionen?
Kolev: Ein Arzt oder Ärztin hat im Durchschnitt 90 Sekunden Zeit für die Vorbereitung und 7 Minuten für Behandlung bzw. Sprechstunde, aber dafür vier Stunden Verwaltungsarbeit pro Woche. Warum sollte jemand so viele Stunden für etwas einsetzen, wofür er oder sie nicht ausgebildet wurde, auch in Anbetracht der Versorgungslücke? Wir entlasten das Gesundheitspersonal direkt mit KI-Tools, angefangen bei Verwaltungsaufgaben, die das Personal in den Praxen massiv aufhalten.
Zwei Beispiele: Zum einen unser KI-basierter Telefonassistent, der 24/7 Anrufe entgegennimmt und automatisch Termine bucht. Zum anderen der KI-Sprechstundenassistent, der Gespräche im Behandlungszimmer dokumentiert – sodass Ärztinnen und Ärzte sich nicht auf ihrem Computer konzentrieren und tippen müssen, sondern den Menschen im Sprechzimmer wieder in die Augen schauen können. Es geht uns bei allen KI-Tools immer um messbaren Nutzen.
Was macht Ihr System so revolutionär für Praxen?
Kolev: Das iPhone hat alles in einem Gerät vereint und dadurch eine völlig neue Nutzererfahrung geschaffen. Das iOS ermöglicht eine komplette Integration über diverse Endgeräte und damit Funktionalitäten. Genau das wollen wir im Gesundheitswesen erreichen. Heute haben Praxen zig verschiedene Systeme: eins für Termine, eins für Kommunikation, eins für Abrechnung. Dazu kommen medizinische Geräte. Alles läuft nebeneinander her, nichts spricht miteinander. Das Fax ist immer noch ein Kommunikationsmittel in deutschen Praxen im Jahr 2025! Mit der Doctolib-Praxissoftware, die Ende des Jahres kommt, verbinden wir alle Abläufe: von der Terminbuchung über Patientenaufnahme und Dokumentation bis hin zur Abrechnung und Kontinuität der Versorgung – alles in einem KI-basierten System.
Ein großes Versprechen ist die Entlastung im Alltag. Wie genau hilft Ihr System dabei, Verwaltungsaufwand zu reduzieren?
Kolev: Die Bedienung ist einfach und intuitiv: Man muss also keine langwierige Praxissoftware-Schulung absolviert haben, um sie zu nutzen – und es sind nur wenige Klicks für jeden Arbeitsschritt nötig.
Konkret: Ein Beispiel zum Telefonassistent allein: 75 % der Anrufe gehen bei einer durchschnittlichen Praxis ins Leere, und 45 Stunden pro Monat verbringt eine Fachkraft am allein am Telefon. Unser Telefonassistent und die Online-Buchung verringern diese Belastung. Das sind Stunden, die wieder für die medizinische Versorgung zur Verfügung stehen.
Unsere digitale Patientenaufnahme ermöglicht, Formulare vorab auszufüllen – am Empfang fällt die Zettelwirtschaft weg. Der KI-Sprechstundenassistent dokumentiert, die Ärztin oder Arzt muss nur noch anpassen und bestätigen. Das Ergebnis: Wir eliminieren Doppelarbeit, automatisieren Administration und geben Ärzten und Ärztinnen das zurück, wofür sie ausgebildet wurden – Zeit für die Versorgung der Menschen. Das Feedback aus der Praxis bestätigt die Wirkung: Ärzte sparen in einer Behandlung 50% Zeit, da die Dokumentation vorher in etwa genauso lange dauerte wie die Behandlung selbst. Wie es eine Ärztin im Interview formulierte: „Jetzt machen Sprechstunden wieder Spaß und ich kann meine Aufmerksamkeit ganz auf meine Patientinnen und Patienten legen." Das ist sofort spürbare Entlastung.
Welche Rolle spielt das Feedback der Ärztinnen und Ärzte bei der Weiterentwicklung?
Kolev: Wir arbeiten konstant mit Ärztinnen, Ärzten, medizinische Fachangestellte, Praxismanagern und Praxis-IT-Expertinnen zusammen, die unsere Tools im Praxisalltag testen. Das sind echte Pioniere! Ihr Feedback ist praxisnah und sehr konkret. Nur so können wir eine Praxissoftware entwickeln, die wirklich nutzerzentriert ist.
Blick nach vorn: Welche Chancen sehen Sie langfristig für den Einsatz von KI im Gesundheitswesen – über die Praxisorganisation hinaus?
Kolev: Der große Wandel liegt bei der Prävention: Wir müssen von einem krankheitsorientierten zu einem gesundheitsorientierten System wechseln. Heute behandeln wir Krankheiten. Morgen verhindern wir sie. Was heute schon funktioniert ist: Ihr Doctolib schlägt automatisch die passende Vorsorge vor, sodass Patientinnen und Patienten ihre Präventionstermine buchen können und somit Krankheiten frühzeitig erkannt und behandelt – oder gar vermieden werden können. Die Gesundheitserinnerungen ermöglichen, wichtige Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen sowie Impftermine nicht zu vergessen und in der App direkt online zu buchen. Die Funktion basiert auf Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses und des Robert Koch-Instituts. Dazu gehören unter anderem Krebsfrüherkennung, Gesundheits-Check-ups ab 18 und ab 35 Jahren, zahnärztliche Kontrolluntersuchungen, Schutzimpfungen und Kinder- und Jugendvorsorge. Das bedeutet: individualisierte Gesundheitserinnerungen statt Bushaltestellenwerbung.
In Zukunft werden wir vor allem europäischer denken müssen: Vernetzung von Daten für bessere Diagnosen, Wissensaustausch, Therapie. In drei Jahren wird KI nicht mehr "nice to have" sein, sondern essenziell, weil Patientinnen und Patienten die beste Versorgung wollen und weil wir ihr durch den Einsatz von KI näherkommen können.
Wir haben einen massiven Fachkräftemangel im Gesundheitswesen – KI wird helfen, Verwaltungsarbeit zu übernehmen und Praxen als Arbeitsplatz wieder attraktiv zu machen und den Besuch für Patientinnen und Patienten einfacher zu gestalten.
Fakt ist: Die Technologie ist da. Der Bedarf ist da. Jetzt müssen wir nur noch den Mut haben, diese digitalen Lösungen einzusetzen.


