Transformation

KI in der Versicherungsbranche: Mehrwert statt Mythos

Nicht von den technischen Möglichkeiten blenden lassen und keinesfalls bestehende Schwächen digitalisieren – dies empfiehlt Rainer Sommer, Vorstand der Provinzial Holding, Mittelständlern, die ihre Firmen transformieren.

Detailaufnahme von einem Mann mit Brille vor Monittor, als Symbol für KI in der Versicherungsbranche

15.10.2025

DUP UNTERNEHMER-Magazin: Sie warnen davor, KI als Allheilmittel zu verklären. Wo sehen Sie in der Versicherungsbranche aktuell noch Denkfehler – und wie gelingt es Mittelständlern, den Sprung von der Spielerei zur substanziellen Anwendung zu schaffen?

Rainer Sommer: Ja, die Versuchung ist groß, KI als Allheilmittel für alle Problemstellungen zu betrachten. Aber echte Wertschöpfung entsteht nicht durch die Technologie allein, sondern durch die konsequente Anwendung auf echte Prozesse und Probleme. In der Praxis scheitern viele Projekte, weil sie als Selbstzweck der IT gestartet werden oder zu früh zu viel wollen. Ein häufiger Denkfehler liegt darin, sich von den technischen Möglichkeiten blenden zu lassen und zu glauben, dass KI allein genügt – unabhängig von Prozessen, Kompetenzen oder Unternehmenskultur.
Der Sprung gelingt, wenn wir nicht die Technologie in den Vordergrund stellen, sondern den konkreten Mehrwert für unsere Kunden, Mitarbeitenden oder Prozesse. Erst wenn wir klare Anwendungsfälle identifizieren, bestehende Strukturen hinterfragen und die nötigen Voraussetzungen von Datenqualität über Umsetzungs-Verantwortlichkeiten bis zur Führungs-DNA geschaffen haben, wird aus der vermeintlichen Spielerei ein nachhaltiger Produktivitätsbooster. Wir müssen also Schritt für Schritt vorgehen und die Wirkung iterativ überprüfen, anstatt alles auf einmal anzupacken.

Sie betonen, dass KI nur auf „robuster, kuratierter Datenbasis“ funktioniert. Wie groß ist Ihrer Einschätzung nach das Risiko, dass Mittelständler auf KI setzen, bevor ihre Daten überhaupt strukturfähig sind?

Sommer: Das Risiko ist aus meiner Erfahrung tatsächlich sehr groß. KI kann nur so gut sein wie das Fundament, auf dem sie steht – und das sind unsere Daten. Wenn die Daten lückenhaft oder fehlerhaft sind, Schnittstellen fehlen oder Prozesse zu komplex sind, verpufft das Potenzial der Technologie. Die Gefahr besteht darin, dass wir uns zu früh in KI-Projekte stürzen und damit letztlich nur bestehende Schwächen digitalisieren, statt echten Fortschritt zu erzeugen. Deshalb mein Appell: Klarer Nutzenfokus, Datenmanagement und eindeutige Verantwortlichkeit gehören auf die Prioritätenliste ganz nach oben – erst danach lohnt es sich, KI wirklich auszurollen

Die EU-KI-Verordnung zwingt Versicherer zur Transparenz bei automatisierten Entscheidungen. Wie kann sich ein mittelständisches Versicherungsunternehmen dabei nicht nur konform, sondern bewusst vertrauensbildend aufstellen?

Sommer: Transparenz als Vertrauensgrundlage ist aus meiner Sicht nicht nur eine regulatorische Pflicht, sondern unser stärkstes Pfand gegenüber Kunden. Als Versicherer haben wir hier die Chance, Nähe und Übersichtlichkeit zu vermitteln: Entscheidend ist, Kunden aktiv verständlich zu machen, wie und warum bei uns Entscheidungen gefällt werden – egal ob mit Hilfe von KI oder nicht …
Vertrauen entsteht dort, wo Offenheit herrscht – eben etwa durch nachvollziehbare Entscheidungswege, einen klaren Ansprechpartner für Rückfragen und klare Dokumentation. Vertrauen ist aber schon seit Jahrhunderten die Grundlage unseres Geschäfts. Transparenz ist daher für uns Teil des Kundenversprechens und nicht nur eine Compliance-Checkliste.

Sie nennen Reverse Engineering älterer IT-Strukturen als KI-Anwendungsfall. Wie gelingt es, veraltete Systeme in Unternehmen schrittweise KI-fähig zu machen – ohne das Tagesgeschäft zu gefährden?

Sommer: KI im Reverse Engineering hilft, Zusammenhänge und Datenflüsse in Altsystemen sichtbar zu machen, Code-Bestandteile zu analysieren und gegebenenfalls nachzudokumentieren, sowie technologische Umstellungen oder (Teil-)Migrationen zu erleichtern. Damit unterstützt uns die KI darin, die technologischen Schulden abzubauen. Wichtig dabei: Frühzeitig die Kolleginnen und Kollegen mitnehmen, Sorgen ernst nehmen und Zeit für Tests und Nachjustierungen einplanen. Die KI ist hat hier wirklich das Potenzial zur Revolution – das müssen wir dringend nutzen.

Sie sprechen von einer neuen Führungskultur: Hierarchien abbauen, Verantwortung teilen, Sinn vermitteln. Wie radikal muss ein Versicherungsunternehmen umdenken, um das wirklich zu leben?

Sommer: Die Transformation ist tiefgreifend, aber sie lohnt sich. „Radikal“ ist hier vielleicht weniger eine Frage des Tempos, sondern der Konsequenz. Es genügt nicht, ein paar Stellenbeschreibungen umzuformulieren. Wir müssen uns als Führungskräfte fragen: Können wir loslassen und die Verantwortung in die Teams geben? Sind wir bereit, alte Hierarchien und Komfortzonen zu verlassen? Vermitteln wir Sinn und Transparenz? Der Wandel gelingt nur, wenn wir als Management konsequent vorangehen, Freiräume schaffen, offene Kommunikation fördern und mit Fehlern konstruktiv umgehen. Das erfordert Mut, zahlt sich aber mit mehr Engagement und Innovation aus.

Sie haben mit dem Betriebsrat klare Leitplanken für den KI-Einsatz geschaffen. Wie lassen sich solche ethischen Standards in einem Unternehmen verankern, ohne die Agilität zu verlieren?

Sommer: Ethik und Agilität schließen sich keineswegs aus. Im Gegenteil, sie ergänzen sich. Klare Leitplanken – etwa beim Einsatz von KI – geben den Mitarbeitenden Sicherheit und fördern das Vertrauen in den Veränderungsprozess. Durch den frühzeitigen Einbezug des Betriebsrats und die verbindliche Kommunikation von Werten und „No-Gos“ entsteht Orientierung, kein Bürokratie-Monster.
Wichtig ist, Regelungen möglichst verständlich auszugestalten, regelmäßig gemeinsam zu hinterfragen und sie an die Entwicklung anzupassen. Unsere Erfahrung bei der Provinzial zeigt: Mit festen Spielregeln und gemeinsam getragenen Prinzipien handeln Teams sogar mutiger und eigenständiger.

Statt auf offene KI-Modelle setzt Provinzial bewusst auf geschlossene, interne Lösungen. Wo liegen für Ihr Unternehmen die praktischen Vorteile in puncto Datenschutz und Souveränität?

Sommer: Die Entscheidung für geschlossene Systeme basiert auf unserem zentralen Wert: Vertrauen. Unsere Kunden geben uns sensible Daten, um sie zu schützen. Diesen Vertrauensvorschuss nehmen wir sehr ernst. Mit internen, kontrollierten Lösungen behalten wir volle Hoheit über Trainingsdaten, Modellnutzung und Zugriff. Das schützt nicht nur vor externen Risiken, sondern erleichtert auch das Erfüllen regulatorischer Anforderungen und gibt uns die Flexibilität, Modelle gezielt am Bedarf unserer Organisation auszurichten. Für uns ist das ein entscheidender Faktor, um Souveränität und Innovation im Gleichgewicht zu halten.

Sie nennen KPI-basierte Bewertung als einen Erfolgsfaktor für KI-Projekte. Welche Kennzahlen sind aus Ihrer Sicht für Versicherer entscheidend – und wie lassen sich diese in einem mittelständischen Setup realistisch erheben?

Sommer: Aufwand und Mehrwert erfolgreicher KI-Projekte müssen messbar sein. Neben klassischen Kennzahlen wie Durchlaufzeit, Automatisierungsquote oder Fehlerreduktion spielen Aspekte wie Kundenzufriedenheit, Bearbeitungsgeschwindigkeit und regulatorische Konformität eine wichtige Rolle. Dagegen steht natürlich der Aufwand bei der Erstellung und Pflege der Modelle.
Gerade im Mittelstand gilt: Weniger ist mehr – entscheidend ist, die wirklich relevanten KPIs klar zu definieren, regelmäßig zu berichten und die Ergebnisse gemeinsam zu reflektieren. Der Nutzen der Technologie wird erst sichtbar, wenn wir ihn in den Prozessen und Organisationen auch realisieren. Wichtig bleibt: Der Fokus auf Wirkung und Akzeptanz, nicht nur auf technische Metriken.

Dr. Rainer Sommer

Seit 2023 ist der promovierte Mathematiker Vorstand für Vertragsservice (Komposit), Schaden & Technologie des Provinzial Konzerns. Zuvor war er in verschiedenen Vorstands- und Geschäftsführungspositionen in Deutschland und international unter anderem für die Generali und die Zurich tätig