Auf der Konferenz „South by Southwest“ (SXSW) im Frühjahr dieses Jahres fiel Taiwans Ex Digitalministerin und KI-Vordenkerin Audrey Tang etwas auf: „Viele Rednerinnen und Redner bezeichnen die Europäische Union als Vorreiter für einen Weg zu einem nachhaltigeren Hochtechnologie-Ökosystem.“ Denn das europäische System setze auf Verbraucherrechte, Interoperabilität und ethische Standards und schaffe damit ein ermutigendes Gegenmodell zur Profitorientierung.
Ein zweiter Trend, den sie im Business Talk mit DUP-Verleger Jens de Buhr anspricht, ist die
Dezen tralisierung der KI-Entwicklung. Neben der Faszination für das vertikale Modell von wenigen „Super intelligenzen“ wachse das Interesse an lokalen, energieeffizienteren Modellen, die von Einzelpersonen gesteuert werden. „Wie beim Übergang von Großrechnern zu Personal Computing“ sieht die Digitaldiplomatin darin die Chance, die Abhängigkeit von internationalen Technologiekonzernen zu überwinden.
Von Chatbots zu "lebender Intelligenz"
Dass die 44-Jährige ihre eigenen Vorstellungen vom Intelligenzzeitalter hat, zeigt sich spätestens, als sie auf die Idee der „lebenden Intelligenz“ zu sprechen kommt: Chatbots und andere heutige KI-Systeme vergleicht Tang mit Platons Höhle. Sie sehen Texte, Bilder, Daten – kurz, unsere Beschreibungen der Welt –, aber nie die Welt selbst. Um nützlich zu sein, brauche Künstliche Intelligenz Kontext, Verantwortung und menschliche Verbindung. Denn: „Ein guter Mensch ist nicht nur einer, der Regeln befolgt, sondern einer, der Verantwortung übernimmt“, argumentiert Tang. Diese Verantwortung im sozialen Gefüge mitzudenken, müssten Maschinen lernen.
Dass Roboter vor einem „ChatGPT-Moment“ stehen, wie Nvidia-Chef Jensen Huang behauptet, glaubt sie nur bedingt. Während in der Fertigungsindustrie bereits Produktionslinien an Roboterarme angepasst werden, sei es im Dienstleistungssektor umgekehrt: „Wir müssen diese Roboter an die Bedürfnisse unserer Gesellschaft anpassen”, beschreibt sie die Herausforderung. Tätigkeiten zwischen Maschinen könnten schnell automatisiert werden – etwa die Abwicklung von Strafzetteln.
In anderen Bereichen hingegen könnten diese als „Co-Piloten bestenfalls eine unterstützende Rolle spielen“. So könnten Roboter Pflegekräften beispielsweise Informationen liefern, beim Übersetzen oder
Sortieren von Dokumenten helfen, aber: „Sie ersetzen die Pflegekräfte nicht.“ Der gezielte Einsatz von KI könne vielmehr „mehr Zeit füreinander“ schaffen – sie glaubt an das Potenzial der Technologie.
Minimaler Energieeinsatz, maximale Leistung
Davon können auch deutsche Unternehmen profitieren, ist Tang überzeugt. „Vibe-basiertes Coding“ beispielsweise mache es „einfacher, maßgeschneiderte Dienstleistungen und Erlebnisse mit Software zu entwickeln“. So nennt sie einen Trend, der in den nächsten zehn Jahren den Wettbewerb steigern könne. Die Nutzenden beschreiben ihre Bedürfnisse, und eine KI erstellt die passenden Softwarelösungen. „Anstatt einen Designer zu engagieren, der 10.000 verschiedene Kundenbedürfnisse erfüllt, können Prosumenten das Erlebnis nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten“, bringt sie die Vorteile auf den Punkt.
Zudem sollten Firmen auf Open-Source-Kooperationen, Edge-Computing und damit Datenverarbeitung vor Ort setzen, um Abhängigkeiten von globalen Tech-Konzernen zu reduzieren. Ob beim Training großer Sprachmodelle oder in der Robotik: Der Schlüssel liege darin, Systeme zu entwickeln, die mit minimalem Energieeinsatz maximale Leistung erzielen. Hier sieht die Cyber-Botschafterin eine zentrale Herausforderung für „organoide“ Intelligenz. Wie das menschliche Gehirn sei diese zwar effizienter als Siliziumchips, aber immer noch schwer skalierbar. Gleichzeitig warnt Tang vor ethischen Fallstricken: Statt zu versuchen, die Organoide zu bewussten Systemen wie etwa Mäusen zu kultivieren, plädiert sie für eng spezialisierte Organoide ohne Bewusstsein. „Dann ist es nicht nur ethisch vertretbarer, sondern auch leichter abzustimmen“, meint sie. Eines der wichtigsten Technologiesignale aus den USA sei laut Tang der Wechsel vom Safety- zu einem Security-Mindset. Während in Europa über „Bias“ und Diskriminierung durch KI gesprochen werde, müsse das Feld längst weiter gefasst werden: „KI wird zum Werkzeug für Cybercrime, Desinformation und biotechnologische Angriffe.“ Deshalb empfiehlt sie Unternehmen, verstärkt in Resilienz zu investieren. Dazu gehörten vertrauenswürdige Lieferketten genauso wie robuste IT-Sicherheitsstandards.
Von Security-Mindset zu Klimaschutz
Tang sieht in KI das Potenzial, Lösungen gegen die Klimakrise und andere große Herausforderungen unserer Zeit zu entwickeln. Gerade bei Klimafragen sei es effizienter, nicht auf ein einziges „Wundermittel“ wie Geoengineering zu setzen, meint sie. Vielmehr brauche es zahlreiche kleine, dezentrale Beiträge. „Hätten wir dieses Interview in Augmented Reality geführt, würde das Flugreisen massiv einsparen“, nennt sie ein praktisches Beispiel, „oder wenn der für Flugreisen verwendete Treibstoff Biokraftstoff wäre und somit klimaneutraler.“ Bei der Bekämpfung von Nahrungsmittelknappheit könne spezialisierte KI ebenfalls helfen — etwa durch präzise Bewässerung oder vertikale Landwirtschaft. „So werden wir am Ende ein viel vollständigeres Puzzleteil haben, anstatt die gesamte Zivilisation auf eine große Intervention zu drängen“, behauptet sie.
Von der einen perfekten Lösung hält Tang wenig. Nicht umsonst stammt ihr Lieblingszitat vom Singer- Songwriter und Schriftsteller Leonard Cohen: „Es gibt einen Riss in allem – so kommt das Licht herein“, fasst es ihre zentrale Botschaft zusammen. Was das für kleine und mittelständische Unternehmen aus Deutschland bedeutet? Ihnen gibt die Taiwanesin drei konkrete Tipps: die Beteiligung an Open-Source- Communitys, die Nutzung von Edge-Computing zur Eigenkontrolle von Daten und Algorithmen sowie die Offenheit für neue Ideen. Die Zukunft gehört eben nicht der perfekten KI. Sie liegt in der Zusammenarbeit mit intelligenten Werkzeugen, die uns menschlicher machen.

