Unersetzlich trotz KI

„Führungskräfte müssen als KI-Vorbilder vorangehen“

Die Erwartungen an Führungskräfte steigen: Laut einer aktuellen Umfrage fürchten 76 Prozent der deutschen CEOs um ihre Position, sollten sie keine greifbaren KI-Ergebnisse liefern. Doch was genau wird eigentlich erwartet – und wie gelingt es, zwischen echtem Fortschritt und digitalem Aktionismus zu unterscheiden? Ein Gespräch über technologische Missverständnisse, Leadership-Qualitäten und die Kunst, KI strategisch statt oberflächlich zu denken.

Illustration: Ein Businessmann, dessen Kopf aus Datensträngen besteht, als Symbol für KI in der Unternehmensführung

20.05.2025

DUP UNTERNEHMER: Die Sorge unter Führungskräften wächst: 76 Prozent deutscher CEOs fürchten laut Ihrer Umfrage um ihre Position, wenn sie keine KI-getriebenen Ergebnisse liefern. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Missverständnisse in Bezug auf KI und Führungsrollen?

Maximilian Harms: Viele Führungskräfte unterschätzen derzeit zwei zentrale Aspekte: Zum einen das tiefgreifende Transformationspotenzial generativer KI für etablierte Geschäftsmodelle – und zum anderen die Herausforderungen, die ein erfolgreicher Wandel mit sich bringt. Gleichzeitig beobachten wir eine gewisse Resignation gegenüber der vermeintlichen technologischen Rückständigkeit europäischer Unternehmen. Dabei liegt gerade in der Kombination aus KI-Technologien, proprietären Industriedaten und fundierter Branchenexpertise ein erhebliches Potenzial für echte Wettbewerbsvorteile. Wer diese Chancen nicht erkennt oder sich von pauschalem Pessimismus bremsen lässt, handelt nicht proaktiv – und riskiert den Anschluss.

Sie betonen, dass Führungskräfte konkrete Anwendungsfälle identifizieren müssen. Wie finden Entscheider in der Praxis die richtigen Hebel, um KI sinnvoll und geschäftsnah einzusetzen – gerade im mittelständischen Umfeld mit begrenzten Ressourcen?

Harms: Der Schlüssel liegt darin, nicht bei der Technologie zu beginnen, sondern bei den strategischen Unternehmenszielen. KI ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug, um bestehende Prozesse zu optimieren und Prioritäten effizient umzusetzen. Erfolgreiche Unternehmen starten mit klar abgegrenzten Anwendungsfällen – etwa der qualitätsgesteuerten Produktion, datenbasierter Personalisierung in der Kundenansprache, maschinellem Lernen in Forschung und Entwicklung oder der Integration intelligenter Funktionen in Produkte und Services. Spannend ist dabei, dass KI längst nicht mehr nur ein Thema für digitale Vorreiter ist. Auch klassische Industrieunternehmen setzen zunehmend auf intelligente Produktweiterentwicklungen, um sich vom Wettbewerb abzuheben.

Der Begriff „KI-Washing" macht deutlich, wie schnell Unternehmen der Versuchung erliegen, Technologien ohne echten Mehrwert einzusetzen. Woran erkennen Führungskräfte, ob ein KI-Projekt wirklich geschäftsrelevant ist – oder nur Fassade?

Harms: „KI-Washing“ ist meist die Folge von Reaktionsdruck. Unternehmen wollen schnell sichtbar „etwas mit KI“ machen – und greifen dabei zu Standardlösungen, die kaum an die eigenen Prozesse angepasst sind. Um echte Relevanz zu prüfen, empfehlen wir drei Schritte: Erstens, eine strukturierte Bestandsaufnahme konkreter Anwendungsfelder – idealerweise gemeinsam mit den Fachexpertinnen und Fachexperten. Zweitens, die Analyse der verfügbaren Daten: Sind Qualität, Verfügbarkeit und Relevanz ausreichend? Und drittens die Überprüfung der technologischen Basis. Denn ohne einen modernen, skalierbaren Tech-Stack scheitern selbst ambitionierte Projekte. Entscheidend ist, dass KI immer einem geschäftlichen Ziel dient – nicht der bloßen Innovations-Optik.

Inwiefern verändert KI die Anforderungen an Leadership-Skills – und welche Fähigkeiten sind für Führungskräfte künftig unverzichtbar, um nicht durch die Technologie ersetzt, sondern durch sie gestärkt zu werden?

Harms: KI verändert das Anforderungsprofil an Führungskräfte grundlegend. Vier Kompetenzen stehen dabei im Zentrum: Erstens ein solides technisches Verständnis – also die Fähigkeit, die Funktionsweise und Grenzen von KI einordnen zu können. Zweitens eine gezielte Personalstrategie, die Talente mit interdisziplinärer Expertise anzieht – Menschen, die Technologie und Fachbereich gleichermaßen verstehen. Drittens ein konzeptioneller Weitblick, um aus Einzelmaßnahmen eine ganzheitliche Transformationsvision zu entwickeln. Und viertens die Fähigkeit zum Change Leadership, also Mitarbeitende aktiv und empathisch durch Veränderungsprozesse zu führen. Wer diese Fähigkeiten entwickelt, nutzt KI nicht als Bedrohung, sondern als Verstärker der eigenen Führungskompetenz.

Sie sprechen davon, dass Führungskräfte den Ton für den KI-Einsatz angeben sollen. Wie gelingt es, dabei Vertrauen im Team zu schaffen und gleichzeitig eine klare Vision für den Wandel zu vermitteln?

Harms: Vertrauen entsteht durch Einbindung und Transparenz. Erfolgreiche Transformation gelingt nur, wenn die Belegschaft aktiv mitgenommen wird. Dazu gehört ein glaubwürdiges Leadership-Commitment: Führungskräfte sollten die strategische Bedeutung von KI selbst verinnerlichen und vorleben – etwa durch gezielte Weiterbildung oder durch die aktive Rolle als Sponsor von Schlüsselprojekten. Parallel sollten Unternehmen gezielt Talente mit KI-Affinität identifizieren und fördern. Solche „Early Adopters“ sind oft Multiplikatoren im Wandel. Wichtig sind außerdem funktionsspezifische Trainings, die auf die realen Anforderungen im Arbeitsalltag eingehen – etwa techniknahe Module für datenintensive Bereiche oder praxisorientierte Schulungen für kundennahe Teams. Und nicht zuletzt braucht es eine Kultur, die das Experimentieren mit KI-Tools ausdrücklich fördert – über Bereichsgrenzen hinweg.

Datenqualität gilt als Grundvoraussetzung für jede erfolgreiche KI-Strategie – doch gerade hier hakt es vielerorts. Welche Schritte empfehlen Sie Unternehmen, um ihre Datenstrukturen fit für KI zu machen?

Harms: Zahlreiche Studien belegen: Die größten Stolpersteine bei KI-Initiativen liegen in mangelhafter Datenqualität und fehlendem Datenzugang. Und obwohl die Probleme erkannt sind, investieren viele Unternehmen noch zu wenig in den Aufbau von Datenkompetenz. Drei Handlungsfelder sind entscheidend: Erstens muss die Verantwortung für Datenqualität stärker in die Fachbereiche verlagert werden – dorthin, wo Daten tatsächlich entstehen und genutzt werden. Zweitens sollten Unternehmen eine „AI-first“-Kultur etablieren, in der datenbasierte Entscheidungen zur Norm werden. Vorreiter wie Zoom oder Shopify machen es vor. Drittens ist eine umfassende Analyse nötig: Welche Prozesse, Produkte oder Services bieten grundsätzlich Potenzial für KI – und welche Daten braucht es dafür? Unternehmen, die diese Fragen systematisch angehen, verschaffen sich einen echten Startvorteil.

Wenn Sie einem CEO oder Geschäftsführer nur einen Ratschlag geben dürften: Was wäre aus Ihrer Sicht der entscheidende erste Schritt, um sich im KI-Zeitalter als unersetzlich zu positionieren?

Harms: Führung beginnt mit Vorbildfunktion. Wer im KI-Zeitalter relevant bleiben will, muss selbst aktiv werden – durch eigene Weiterbildung, durch aktives Sponsoring strategischer Initiativen und durch eine klare Haltung. Authentizität schlägt Delegation. Denn Mitarbeitende orientieren sich an Führungskräften, die Technologie nicht nur propagieren, sondern auch konkret einsetzen. Wer diesen Anspruch ernst nimmt, schafft Vertrauen, erhöht die Veränderungsbereitschaft im Unternehmen – und wird nicht nur zum Treiber, sondern zum Gesicht des digitalen Wandels.

Maximilian Harms

leitet das Business Transformation Advisory Team bei Dataiku. Sein Team betreut Dataikus strategisch wichtigsten Kunden und berät sie dabei, welche organisatorischen Voraussetzung für die Skalierung (generativer) KI geschaffen werden müssen und wie deren Mehrwerte quantifiziert werden können