Wie es besser geht, zeigen zwei Expertinnen, die täglich an der Schnittstelle von Personal, Vielfalt und moderner Führung arbeiten: Nora Bilz, Head of German Office bei myAbility, und Meike Dietzel, HR Director beim Health-Tech-Unternehmen Doctolib. Im Interview sprechen sie über unbewusste Barrieren, den Wandel zu einer inklusiven Arbeitskultur – und darüber, warum Inklusion kein „Nice-to-have“, sondern ein entscheidender Erfolgsfaktor im Kampf um Talente ist.
DUP UNTERNEHMER-Magazin: Die Umfrage zeigt: 78 Prozent der Befragten haben im Bewerbungsprozess Diskriminierung erfahren – meist nach Offenlegung ihrer Behinderung. Welche strukturellen Veränderungen sind notwendig, um diesen systemischen Benachteiligungen wirksam zu begegnen?
Nora Bilz: Entscheidend ist die Wissensvermittlung: Recruiterinnen und Recruiter sowie Führungskräfte müssen geschult sein, um kompetent und einfühlsam auf die Offenlegung einer Behinderung reagieren zu können. Dafür braucht es Räume, in denen Unsicherheiten und Fragen offen thematisiert werden dürfen. Neben klassischen Sensibilisierungsmaßnahmen ist es besonders wirksam, Menschen mit Behinderungen als Beraterinnen und Berater oder Trainerinnen und Trainer einzubeziehen. Erst durch echte Begegnungen können Vorurteile abgebaut und strukturelle Benachteiligung reduziert werden.
Fast 40 Prozent der Befragten machen ihre Offenheit im Bewerbungsprozess von der Unternehmenskultur abhängig. Welche Signale müssen Unternehmen senden, damit sich Bewerbende mit Behinderungen sicher und willkommen fühlen?
Bilz: Bewerbende achten genau darauf, wie ernst es einem Unternehmen mit dem Thema Inklusion ist. Sichtbarkeit und Authentizität sind entscheidend – etwa durch ein klares Statement auf der Karriereseite, Zitate von Mitarbeitenden mit Behinderungen oder barrierefreie Inhalte. Im Gespräch selbst sollten bestehende Unterstützungsangebote aktiv angesprochen werden, etwa Arbeitsplatzanpassungen oder interne Netzwerke für Mitarbeitende mit Behinderungen.
Meike Dietzel: Eine inklusive Kultur muss sichtbar und spürbar sein. Wir achten bei Doctolib auf eine barrierefreie Karriereseite und kommunizieren transparent über Unterstützungsangebote. Etwa flexible Arbeitsmodelle oder zusätzliche Freistellung für Arzttermine. Unser Signal lautet: Bei uns ist jede und jeder willkommen – unabhängig von Einschränkungen.
Ein vertrauensvolles Umfeld, flexible Strukturen und transparente Kommunikation sind laut Umfrage zentrale Voraussetzungen für gelingende Inklusion. Welche konkreten Maßnahmen wirken sich in der Praxis besonders positiv aus – sowohl kurzfristig als auch nachhaltig?
Bilz: Ein wichtiger Schritt ist die Benennung einer Ansprechperson für Diversity und Inklusion. In kleineren Unternehmen kann dies eine zusätzliche Rolle sein, in größeren Betrieben braucht es dafür eigene Ressourcen. Diese Person sorgt für Schulungen, optimiert Prozesse und macht Erfolge sichtbar. Das ist essenziell, um Motivation und Kontinuität im Unternehmen zu sichern.
Dietzel: Inklusion gelingt, wenn sie von einem Netzwerk getragen wird. Unsere DEI- und Social-Impact-Gruppen organisieren Austauschformate, Aktionstage und begleiten individuelle Anliegen. Kurzfristig schaffen wir flexible Lösungen, langfristig stärken wir so die Kultur und lernen kontinuierlich dazu.
Inklusion beginnt lange vor der Einstellung. Wie können Unternehmen schon in der Stellenanzeige und im Recruiting-Prozess Barrieren abbauen und Vertrauen aufbauen?
Bilz: Inklusive Stellenanzeigen sollten Menschen mit Behinderungen aktiv zur Bewerbung einladen. Das gelingt etwa durch die Veröffentlichung auf spezialisierten Plattformen oder durch einen klaren Hinweis in der Ausschreibung. Hilfreich ist zudem, früh Offenheit für individuelle Lösungen zu signalisieren – idealerweise auch durch eine Ansprechperson für Fragen zur Barrierefreiheit.
Dietzel: Bei Doctolib setzen wir auf inklusive Sprache und laden gezielt alle Talente zur Bewerbung ein. Wir ermöglichen es, Anpassungsbedarfe offen zu kommunizieren, und schulen unsere Teams zu fairen, barrierearmen Bewerbungsprozessen. Regelmäßige Audits sichern Transparenz und Chancengleichheit.
Doctolib und myAbility setzen auf digitale Lösungen und assistive Technologien. Welche Rolle spielt Technologie bei der Inklusion im Arbeitsumfeld – und wo liegen aktuell noch ungenutzte Potenziale?
Bilz: Digitale Barrierefreiheit hat enormes Potenzial: Kurzfristig zur Verbesserung der Teilhabe und langfristig als Zugang zu neuen Kundengruppen. Künstliche Intelligenz wird künftig vieles erleichtern, z. B. durch automatische Gebärdensprachübersetzung oder einfache Sprache. Derzeit tut sich besonders viel im Bereich Kommunikation und Wahrnehmung.
Dietzel: Technologie ist ein Schlüssel zur Teilhabe. Wir entwickeln barrierefreie Lösungen gemeinsam mit Betroffenen. Zum Beispiel mit unserem KI-gestützten Telefonassistenten, der Terminbuchungen auch ohne Internet ermöglicht. Inklusion endet für uns nicht beim Produkt, sondern beginnt schon im Entwicklungsprozess.
Viele Unternehmen halten Inklusion für ein Randthema oder glauben, ohne vollständige Barrierefreiheit keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen zu können. Wie lassen sich solche Mythen gezielt entkräften und der Blick auf die Potenziale lenken?
Bilz: Fakt ist: Rund 20 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland leben mit einer Behinderung – die meisten davon nicht sichtbar. Wer also Inklusion ignoriert, verpasst Chancen auf wertvolle Talente und neue Kundengruppen. Außerdem: Vollständige Barrierefreiheit ist ein Ideal, aber kein Muss. Viel wichtiger ist eine offene, lösungsorientierte Haltung. Ich selbst nutze einen Rollstuhl, kann aber Stufen steigen. Was zählt, ist der Dialog.
Inklusion erfordert einen kulturellen Wandel. Wie gelingt es Unternehmen, insbesondere im Mittelstand, diesen Prozess strategisch anzugehen, ohne sich im Aktionismus zu verlieren?
Bilz: Drei Dinge sind entscheidend: die Unterstützung durch die Führungsebene, eine verantwortliche Ansprechperson und ein klarer Plan mit messbaren Zielen. Inklusion braucht Struktur, sonst bleibt sie im Aktionismus stecken.
Dietzel: Unsere Vision bei Doctolib ist: Gesundheit für alle zugänglich und inklusiv zu machen – und das beginnt im eigenen Unternehmen. Inklusion ist kein Projekt mit Enddatum, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Mein Appell: Verankern Sie Vielfalt und Inklusion in der Strategie, schaffen Sie Räume für Feedback und leben Sie es als Führung aktiv vor.



