Regulierungswahn

Wachstumsbooster Bürokratieabbau

Deutschland, einst Inbegriff industrieller Zuverlässigkeit und ordnungspolitischer Weitsicht, ist zur Bühne eines paradoxen Schauspiels geworden: Die wirtschaftliche Freiheit wird ausgerechnet durch jenen Staat ausgebremst, der sie einst ermöglichte. Bürokratie ist zur systemischen Belastung mutiert. Die Folgen sind messbar, konkret und dramatisch.

Illstration: Ein Stapel Papier mit herumfliegenden Papierbögen, als Symbol für den Bürokratieabbau in Deutschland

28.04.2025

Laut ifo-Institut kostet die Bürokratie in Deutschland jährlich 146 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung – und damit auch Innovationskraft, Wettbewerbsfähigkeit und letztlich Arbeitsplätze. Unternehmerinnen und Unternehmer sprechen immer öfter von bürokratischer Gängelung, von lähmendem Misstrauen des Staates gegenüber der Wirtschaft, von Langsamkeit und Komplexität. Während Investitionen, Innovationen und Ideen in der Schweiz oder Schweden vergleichsweise schnell Fuß fassen, kämpft der deutsche Mittelstand mit Formularen, Fristen und Fördervorgaben.

Der Staat muss handlungsfähiger werden

Dass sich kürzlich auch prominente Stimmen wie der ehemalige Kanzlerkandidat Peer Steinbrück (SPD) und Ex-Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) gemeinsam mit Managerin Julia Jäkel und dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Andreas Voßkuhle parteiübergreifend für eine grundlegende Verwaltungsreform starkmachen, ist kein Zufall. Ihre „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ nimmt die neue Bundesregierung in die Pflicht: „Fünf Bundesministerien, die zuständig sind für 170 Sozialleistungen, die abgewickelt werden von 30, wenn Sie so wollen, Bewilligungsstellen, und dann natürlich noch mal in 16 Ländern und in rund 400 kommunalen Gebietskörperschaften teilweise auch noch unterschiedlich gehandhabt werden. Das heißt, wir haben es mit einer Überkomplexität des deutschen Sozialstaats zu tun“, brachte es Steinbrück bei der Vorstellung der Initiative auf den Punkt. Es ist ein Appell, den wirtschaftlich denkende Menschen nur begrüßen können – denn ein starker Staat muss nicht groß sein, sondern wirksam.

Währenddessen setzen andere Länder längst andere Maßstäbe: In Argentinien hat Präsident Javier Milei seit seiner Wahl Ende 2023 den radikalsten Bürokratieabbau der jüngeren Geschichte gestartet – mit der bildstarken Kettensäge als Symbol. Rund 350.000 staatliche Stellen sollen wegfallen, Tausende Regularien wurden gestrichen. Auch wenn Mileis Methode polarisiert, ist die Botschaft eindeutig: Wer Wachstum will, muss Fesseln lösen. In den USA macht es ihm Tech- Mogul Elon Musk auf Geheiß des Präsidenten Donald Trump mit der staatlichen DOGE-Abteilung (Department of Government Efficiency) nach. Für Musk ist „Bürokratie der Tod der Produktivität“ – ein Satz, der in Berlin und vor allem in Brüssel nachhallt.

Reformversprechen, aber kaum Entlastung

Viele Bürokratievorschriften kamen in den vergangenen Jahren von der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Kommission. Reformansätze gab es zwar mit den sogenannten Omnibus-Paketen I und II, sie blieben aber Stückwerk, weil sie sich fast ausschließlich auf Berichtspflichten konzentrierten, nicht aber auf die strukturellen Defizite in der Verwaltung selbst.

Ein exemplarisches Beispiel für die Bürden des regulatorischen Mikromanagements liefert die neue Gefahrstoffverordnung aus dem Dezember 2024. Die sieht vor, dass Bauunternehmen bei Gebäuden, die vor dem Baujahr 1993 errichtet wurden, aktiv erfragen müssen, ob Gefahrstoffe wie Asbest verbaut wurden. Die Bringschuld wurde damit auch noch zur Holschuld. In der Unternehmenspraxis bedeutet das für zahlreiche Mittelständler zeitraubende dokumentationspflichtige Kundengespräche. Für viele Betriebe ist das in der Praxis nicht nur zusätzlicher Aufwand, sondern vor allem auch Ausdruck eines grundlegenden Misstrauens gegenüber der Wirtschaft. Es ist ein System, das davon ausgeht, dass Unternehmer ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, wenn sie nicht permanent überwacht werden.

Ein Trugschluss, findet Christina Böhm, Geschäftsführerin des SR-Malereiunternehmens aus dem fränkischen Strullendorf. Sie liefert ein weiteres Praxisbeispiel, wie Bürokratie auch das Dilemma der Fachkräftegewinnung aus Drittstaaten verschärft: „Mit befristeten Arbeitsverträgen ist es Fachkräften aus dem Ausland schier unmöglich, hierzulande einen Kredit für ein Auto aufzunehmen oder einen Mietvertrag zu erhalten. Unsere Mitarbeitenden fühlen sich aufgrund bürokratischer Regeln als ‚Menschen zweiter Klasse‘“, berichtet Böhm. Sie fordert, dass ein Staat, der Integration propagiert, diese nicht durch Kleinteiligkeit sabotieren sollte.

Generationswechsel unter Druck

Der zunehmende Bürokratieaufwand hat auch anderswo nachhaltige psychologische Effekte: Unternehmertum verliert immer stärker seinen Reiz. Bis 2027 stehen in Deutschland etwa 400.000 mittelständische Unternehmen vor einem Generationenwechsel. Doch nur etwa die Hälfte wird die Nachfolgefrage lösen können. Die Ursache: Junge Menschen fürchten nicht nur das Unternehmerrisiko, sondern vor allem die administrative Überregulierung. Die Folge: Weniger Selbstständige bedeuten langfristig auch weniger Angestellte. Damit fehlt der deutschen Wirtschaft das Fundament für Wohlstand, Beschäftigung und Innovationskraft.

Eine schnellere Digitalisierung der Verwaltung – auch mithilfe von Künstlicher Intelligenz – kann und muss viele Prozesse beschleunigen und vereinfachen. Doch in der Praxis klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine riesige Lücke. Qeridoo-Gründer und -Geschäftsführer Nikolai Boldt schildert die Auswirkungen zum Beispiel beim Bau von Firmengebäuden: „Durch die mangelnde digitale Vernetzung müssen Anträge oft mehrfach eingereicht werden, weil digitale Schnittstellen zwischen den Behörden fehlen. Dadurch werden Unternehmen zu administrativen Prozessen gezwungen, die vermeidbar wären. Unterschiedliche Vorgaben auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sorgen für Rechtsunsicherheit und erschweren zudem eine reibungslose Umsetzung von Bauprojekten“, so Boldt. Und dieses Beispiel ist kein Einzelfall: Genehmigungsverfahren dauern in Deutschland nicht selten länger als die Bauprojekte selbst. Das sollte sich dringend ändern!

EU AI Act ist eine Bürokratiehürde

Verschleppte Verwaltungsmodernisierung wird auch anhand der Umsetzung des EU AI Act deutlich. Während Länder wie Frankreich, die Niederlande und Schweden staatliche Beratungsprogramme eingerichtet und ihre Regulierung praxisnah gestaltet haben, stehen deutsche Unternehmen vor Bürokratiehürden. Viele Unternehmen wissen nicht genau, welche Vorschriften sie einhalten müssen und wie sie ihre KI-Projekte zukunftssicher gestalten sollen.