Die Türkei gewinnt für die globale Automobilindustrie rasant an Bedeutung. Anlässlich des ersten Deutsch-Türkischen Automobilgipfels in Berlin diskutieren Ex-VW-Chef Dr. Herbert Diess, Gürcan Karakaş, CEO des türkischen E-Auto-Herstellers Togg, und Branchenexperte Prof. Dr. Stefan Bratzel mit dem international renommierten Moderator und Journalisten Ali Aslan über den Wandel der globalen Autoindustrie, die Rolle Chinas – und warum die Türkei nicht nur Produktionsstandort, sondern Innovationsmotor Europas ist. DUP UNTERNEHMER war vor Ort und hat das Gespräch dokumentiert.
Ali Aslan: Herr Dr. Diess, Sie sind seit Jahrzehnten in der Autoindustrie. Wie würden Sie die aktuelle Lage der globalen Automobilbranche beschreiben?
Dr. Herbert Diess: Wettbewerbsintensiv – und so bewegt wie seit Langem nicht mehr. Wir hatten rund 20 Jahre lang goldene Zeiten: starkes globales Wachstum, hohe Margen, vor allem dank China. Diese Phase ist vorbei. Die chinesischen Hersteller akzeptieren keine zweistelligen Renditen mehr, der Wettbewerb ist brutal. Wir sind eher wieder in einem Zustand wie vor den 2000ern. Aber: Die Branche ist so spannend und herausfordernd wie nie. Das könnte der Beginn einer neuen goldenen Epoche sein – nur eben unter härteren Bedingungen.
Aslan: Herr Karakaş, wenn Sie von außen auf die globale Autoindustrie blicken: Wie wirkt sie auf Sie?
Gürcan Karakaş: Ein bisschen chaotisch und extrem herausfordernd. Alle kämpfen – aber mit unterschiedlichen Problemen. Die einen mit Überkapazitäten, andere mit Wettbewerbsfähigkeit bei Technologie und Software. Wieder andere mit Kostenstrukturen und Preisen. Gleichzeitig entstehen neue Spieler – und damit Chancen für Unternehmen wie Togg.
Aslan: Herr Professor Bratzel, teilen Sie diese Diagnose?
Prof. Dr. Stefan Bratzel: Ja. Die ganz große Party ist vorbei. Wir sehen tektonische Verschiebungen: Der Innovationsschwerpunkt und die Marktdynamik verlagern sich Richtung China. Dort erleben wir eine enorme Digitalisierung und eine hohe Umsetzungsgeschwindigkeit. Das ist eine riesige Herausforderung – aber auch eine große Chance für diejenigen, die sich neu aufstellen.
Verliert Europa den Anschluss an China?
Aslan: Herr Diess, Sie haben China selbst angesprochen. Ist es übertrieben zu sagen, Europa verliere den Anschluss?
Diess: Es ist in Ordnung, eine gewisse Paranoia zu haben – aber es ist viel zu früh, Europa und Deutschland abzuschreiben. Die neuen E-Plattformen von BMW oder Mercedes sind von der Papierform her absolut auf Augenhöhe: Reichweite, Ladegeschwindigkeit, Effizienz.
Das Thema Software wird oft überhöht. Ich kenne einige, die chinesische Autos in Europa fahren – und viele sind von Softwarequalität und Assistenzsystemen eher enttäuscht. Da gibt es Licht und Schatten.
Was man anerkennen muss: China hat einen riesigen, hochkompetitiven Heimatmarkt, insbesondere bei E-Autos und Batterien. Das ist für die Elektromobilität das, was Deutschland jahrzehntelang im Premiumsegment war: ein Cluster mit brutalem Wettbewerb und hohen Stückzahlen. Wer dort besteht, ist global wettbewerbsfähig. Aber: Die chinesische Autoindustrie verdient derzeit zu wenig, um ihr Wachstum solide zu finanzieren. Der Preiswettbewerb ist selbstzerstörerisch, die Margen sind dünn. Und beim Aufbau stabiler Vertriebs- und Servicenetzwerke in Europa stehen die meisten noch am Anfang.
Aslan: Herr Karakaş, Sie waren beruflich viele Jahre eng mit China und Technologie verbunden. Wie sehen Sie die Lage dort?
Karakaş: China ist kein Overnight Success. Ich habe ab 2010 hautnah gesehen, wie dort massiv investiert wurde – in Batterietechnologie, Software, Connectivity, Sensorik, das gesamte Ökosystem. Ich bin 2011 in China bereits ein E-Auto der zweiten Generation gefahren.
Heute sehen wir die Ernte: wettbewerbsfähige Technologien in vielen Bereichen, vor allem rund um Batterie und Software. Aber das Ergebnis ist das, was Herr Diess beschrieben hat: ein extrem hartes Umfeld, in dem nicht jeder überlebt.
Aslan: Herr Professor Bratzel, was macht aus Ihrer Sicht die besondere Stärke Chinas aus?
Bratzel: Es ist die Kombination. China kontrolliert große Teile der Wertschöpfungskette – etwa bei der Raffinierung von Batterierohstoffen – und hat gleichzeitig ein starkes Software- und Digital-Ökosystem vor Ort: Tech-Konzerne wie Huawei oder Xiaomi steigen direkt ins Autogeschäft ein.
Mindestens genauso entscheidend ist aber die Geschwindigkeit. Entscheidungen werden schnell getroffen, neue Produkte extrem zügig umgesetzt. Genau diese Umsetzungsgeschwindigkeit ist ein Lernfeld für Deutschland und Europa.
„Die Türkei ist in der neuen Autowelt schneller als Deutschland“
Aslan: Herr Professor Bratzel, wenn Sie Deutschland und die Türkei vergleichen: Wo sehen Sie heute mehr Innovationsgeschwindigkeit?
Bratzel: Innovation ist das zentrale Stichwort. Deutschland war erfolgreich, weil es besser war – und deshalb teurer sein konnte. Dieser Abstand ist geschrumpft, andere Länder sind aufgeschlossen. Die Frage ist: Wie kommen wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren wieder vor die technologische Welle?
Für mich liegt genau darin die Chance der deutsch-türkischen Zusammenarbeit: Wenn es gelingt, gemeinsam neue Technologien und Geschäftsmodelle schneller zu entwickeln, können beide Seiten profitieren – und Rollen neu definieren.
Diess: Ich würde dazu gerne noch reinquatschen. Weil ich würde sagen: eindeutig die Türkei. In der neuen Autowelt ist die Türkei schneller unterwegs als Deutschland. Warum?
Die neue Autowelt wird von Start-ups und neuen Akteuren geprägt. Diese denken nicht mehr in Verbrenner-Logik, sondern von Beginn an in Energie- und Datenökosystemen. Deutschland als Autoland hat – anders als etwa China oder die Türkei mit Togg – praktisch kein großes, erfolgreiches Auto-Start-up hervorgebracht.
Ein Start-up wie Togg denkt automatisch integrativ: Fahrzeug, Software, Energie, Ökosystem. In etablierten Konzernen ist es deutlich schwieriger, alte Strukturen hinter sich zu lassen. Die Türkei hat hier als Land und durch Unternehmen wie Togg eine andere Dynamik. Ich habe dem türkischen Minister auf dem Gipfel mit großem Vergnügen zugehört – da spürt man Aufbruch.
Aslan: Herr Karakaş, fühlen Sie sich mit Togg in der Rolle des „David“ gegen die großen „Goliaths“?
Karakaş: Ein bisschen schon. Aber Geschwindigkeit ist nicht nur eine Frage von Kalenderzeit, sondern von Innovationsoutput pro Zeiteinheit.
Unser Vorteil als Start-up – und als Land – ist: Wir haben keine 20, 30 Jahre Legacy in der neuen Autowelt. Es sitzt niemand im Raum, der sagt: „Das haben wir vor fünf Jahren schon ausprobiert, das geht nicht.“
Alle stehen in der neuen Mobilität an einer relativ ähnlichen Startlinie. In diesem Feld hat niemand 100 Jahre Erfahrung – maximal 15. Die Frage ist nicht groß oder klein, sondern: Wer bringt Innovation am schnellsten auf die Straße, wer skaliert, wer baut ein nutzerzentriertes Mobilitätsökosystem?
Togg in Deutschland: „Wir fangen klein an und hören groß auf“
Aslan: Togg ist seit Kurzem offiziell auf dem deutschen Markt. Wie haben Sie sich auf den Einstieg vorbereitet?
Karakaş: Wir haben uns bewusst Zeit gelassen. Schon in der Türkei haben wir unsere Fahrzeuge über viele Monate und zehntausende Kilometer im Alltag getestet. Bevor wir nach Deutschland kamen, waren rund 80.000 Fahrzeuge auf der Straße.
Uns ging es nicht nur um Homologation und EU-Richtlinien – die Türkei arbeitet seit Jahren nach europäischen Standards –, sondern vor allem darum, das Nutzerverhalten zu verstehen: Wie kaufen Menschen ein Auto, welche Services erwarten sie, welche neuen Geschäftsmodelle sind relevant?
Unsere Fahrzeuge sind intelligente Systeme, ständig „Over-the-Air“ aktualisiert und verbessert. Das gibt uns die Sicherheit, in einen so kompetitiven Markt wie Deutschland einzutreten. Ja, es ist die „Höhle des Löwen“. Aber am Ende entscheidet das Produkt – und daran arbeiten wir jeden Tag.
Aslan: Herr Professor Bratzel, wie ordnen Sie den Markteintritt von Togg ein?
Bratzel: Er kommt in einer extrem schwierigen Marktphase. Wir sind in einem darwinistischen Ausleseprozess: Der europäische Markt liegt deutlich unter dem Niveau von 2019, und wir erwarten kein starkes Wachstum in den nächsten Jahren.
Umso wichtiger ist, dass neue Anbieter nicht naiv auftreten. Wer Deutschland wie einen beliebigen Exportmarkt behandelt, scheitert. Togg geht deutlich professioneller vor: mit Verständnis für den Kunden, langfristigem Aufbau und dem richtigen Themen-Set – Elektromobilität, Software, Ökosystem. Dann kann es gelingen.
Start-ups vs. Konzerne: Wer gewinnt den Wandel?
Aslan: Herr Diess, Sie haben VW durch die Phase der E-Transformation geführt. Was sind aus heutiger Sicht die wichtigsten Lehren – auch mit Blick auf internationale Partnerschaften?
Diess: Die zentrale Erkenntnis ist: Mit der alten Technologie kommen wir nicht mehr weit. Konzerne müssen konsequent in die neue Welt investieren – und das fällt schwer.
Man versucht, interne Start-ups oder neue Einheiten zu gründen. Aber diese werden in Krisen oft wieder von den alten Strukturen eingefangen, weil Motor, Getriebe und Verbrennergeschäft kurzfristig noch sehr profitabel sind. Gleichzeitig gibt es politische und gesellschaftliche Interessen, die das Tempo eher bremsen – Stichwort Arbeitsplätze, Zulieferer, Dieseltechnologie.
Wenn ich heute aus etwas mehr Distanz draufblicke, würde ich sagen: Für eine Volkswirtschaft ist es häufig effizienter, konsequent auf neue Start-ups zu setzen, statt die alten Strukturen zu lange zu stützen. Genau das sehen wir in China: Nicht nur westliche Hersteller geraten unter Druck, auch etablierte chinesische Marken verlieren Marktanteile – zugunsten neuer Player.
Aslan: Herr Professor Bratzel, was bedeutet dieser Strukturwandel für die deutsche Industrie?
Bratzel: Es geht um drei große Herausforderungen: neue Kompetenzen, neue Kooperationen und eine neue Kultur.
Erstens: Kompetenzen in Feldern wie Software, Elektromobilität, Datenökosysteme – all das war früher nicht Kern der Autoindustrie. Zweitens: Kooperationen mit Partnern, die oft mächtiger sind als die OEMs selbst – etwa Tech-Konzerne. Drittens: Kultur. Die klassischen Hierarchien funktionieren in der neuen Welt nur bedingt.
In den neuen Geschäften gibt es niemanden, der exakt weiß, wie es geht. Man braucht agile Teams, muss Macht abgeben und Menschen machen lassen, die das Know-how haben. Für etablierte Konzerne ist das ein enormer Kulturwandel.
Sorge um den Standort – und ein klares Nein zu Protektionismus
Aslan: Herr Diess, angesichts von Verbrennerausstieg, Stellenabbau und globalem Druck: Machen Sie sich Sorgen um die deutsche Automobilbranche?
Diess: Natürlich. Am Auto hängt ein großer Teil des deutschen Wohlstands, unseres Lebensstandards und unseres internationalen Ansehens.
Was gefährlich wäre: in den Protektionismus zu flüchten und die alte Welt künstlich zu verlängern. Ob der Verbrenner nun 2035 oder 2037 ausläuft, ist nicht der Punkt. Aber ständig über Verlängerungen zu diskutieren, ist falsch. Damit schwächt man die eigene Wettbewerbsposition, weil man die neue Technologie nicht mit der nötigen Konsequenz skaliert.
Wir brauchen einen starken Heimatmarkt für Elektromobilität – und zwar nicht nur in Europa, sondern auch in China. Volkswagen etwa hat sein Chinageschäft weitgehend verselbstständigt, entwickelt dort mit chinesischen Partnern für den chinesischen Markt. Das ist konsequent, weil das Tempo dort anders ist.
Trotz aller Risiken: Wenn die deutschen Hersteller die nächste E-Generation entschlossen umsetzen und Themen wie Schnellladen, Batterietechnologie und Software ernsthaft anpacken, kann das Auto auch künftig Wohlstandsmotor für Deutschland sein.
2035: Wie sieht die ideale deutsch-türkische Automobilpartnerschaft aus?
Aslan: Lassen Sie uns nach vorn schauen: 2035 – wie sähe aus Ihrer Sicht eine ideale deutsch-türkische Automobilpartnerschaft aus, Herr Diess?
Diess: Ich wünsche mir, dass die Türkei bis dahin vollständig in Europa integriert ist – nicht nur über ein Zollabkommen. Europa braucht die Türkei als starken Produktions- und Innovationsstandort, als Teil eines ausgewogenen Produktionsnetzwerks mit kostengünstigen, hochproduktiven Standorten im Osten und in der Türkei sowie weiteren Standorten in Zentraleuropa.
Die Türkei baut heute bereits rund eine Million Fahrzeuge im Jahr – fast doppelt so viele wie Italien. Dieses Cluster wird wachsen, auf zwei Millionen und mehr. Und es wird technologischer: mehr E-Mobilität, mehr Batterietechnik, mehr Software.
Parallel dazu werden 2035 aus meiner Sicht die meisten Autos hochautomatisiert oder autonom fahren. Das wird unsere Mobilität noch einmal grundlegend verändern – und hier können Deutschland und die Türkei gemeinsam Wertschöpfung aufbauen.
Aslan: Herr Professor Bratzel, Ihre Vision für 2035?
Bratzel: Ich würde mir wünschen, dass wir dann von einer echten Innovationspartnerschaft sprechen – nicht nur von einem kostengünstigen Fertigungsstandort Türkei.
Die Fahrzeuge werden autonom, vernetzt und Teil digitaler Ökosysteme sein. Die entscheidende Frage ist: Wem gehören die zentralen Wertschöpfungsbausteine in Software, Daten, Plattformen und Energie?
Wenn Deutschland und die Türkei hier gemeinsam agieren – mit geteilten Plattformen, gemeinsam entwickelter Software, enger Verzahnung von Industrie und Tech-Szene –, dann profitieren beide. Und dann lerne ich auch Türkisch.
Aslan: Herr Karakaş, Sie haben das Schlusswort. Wie sieht Ihre ideale deutsch-türkische Partnerschaft 2035 aus?
Karakaş: 2035 werden deutlich mehr als 50 Prozent der Fahrzeuge elektrisch fahren, der Verbrenner ist im Rückzug. Im Türkischen sagt man: „Einen angekündigten Tod kann man nicht aufhalten.“
Die Türkei war jahrzehntelang vor allem kostengünstiger Produktionsstandort. 2035 sehe ich sie als Technologie- und IP-Partner: bei IoT, Software, erneuerbaren Energien und deren Integration ins Mobilitätsökosystem.
Wenn Deutschland und die Türkei sich hier komplementär aufstellen – Produktion, Software, Energie, Plattformen –, dann entstehen die größten Synergien. Für uns gilt: Wir fangen klein an und hören groß auf.



