Wie beurteilen Sie den Fortschritt der Digitalisierung in der Industrie-Sparte von Schaeffler?
Denis Wiegel: Ich würde gern den Bereich Sales und Marketing in der Industrie-Sparte der Schaeffler Group herausstellen, weil ich für diesen Bereich zuständig bin. Wir kommen von einem sehr standardisierten, klassischen Produkt und sind in den vergangenen fünf, sechs Jahren massiv in die Digitalisierung für unsere Kunden eingestiegen. Wir haben zum Beispiel das Unternehmen Eco-Adapt aus Frankreich übernommen, das Daten mit elektrischen Signalen aufnimmt. Es passt perfekt in unsere Digitalisierungsstrategie. Wir bleiben also dort, wo wir herkommen und wo wir gut sind, erweitern das Portfolio aber.
Ich möchte aber auch auf die interne Digitalisierung eingehen: Da haben wir in den zurückliegenden Jahren gigantische Fortschritte gemacht. Das prägendste Beispiel ist „medias“, unsere Kundenplattform – eine große One-Stop-Shop-Plattform, über die wir mittlerweile große Teile unseres Geschäfts abwickeln. Aber auch klassische Themen wie Sales-Workflows, CRM, die Visualisierung von Daten, Ticketing-Systeme und so weiter haben wir digitalisiert, genauso wie unsere HR-Landschaft.
In welchen Bereichen muss sich Ihr Unternehmen noch digitaler aufstellen?
Wiegel: Als großes Unternehmen gibt es natürlich immer noch Bereiche, in denen es in puncto Digitalisierung viel zu tun gibt. Mit vielem, was wir 2023 vor allem für die Bereiche Sales und Marketing ausrollen, schaffen wir ganz viele Baselines für die Zukunft. Das betrifft unser CRM, das wir so nutzen wollen, dass ein wirklicher Mehrwert entsteht. Wir verknüpfen das ERP und das CRM noch stärker miteinander, treiben Marketingplattformen weiter voran und verzahnen alles viel stärker miteinander. Es geht also nicht so sehr um die Frage, wo wir noch digitaler werden müssen, sondern wo wir die digitalen Silos so nah zusammenbringen, dass sie nochmal einen Mehrwert bringen.
Warum sind vor allem kleine und mittelständische Unternehmen zurückhaltend, wenn es um Investitionen in die digitale Infrastruktur geht? Und warum ist das falsch?
Wiegel: Es gibt unglaublich vielfältige Beweggründe. Für viele Firmen ist Digitalisierung zu abstrakt. Gerade kleinere Unternehmen mit einem überschaubaren Portfolio, die schon sehr lange am Markt sind, fühlen sich von den Themen Digitalisierung und vor allem von Künstlicher Intelligenz (KI) erschlagen. Sie wissen oft nicht, wo sie anfangen sollen und fallen in eine Art Schockstarre. Manchmal fehlt es aber auch an den finanziellen Mitteln und an einer entsprechenden Expertise im Haus. Die klassische IT von vor zehn oder 15 Jahren hat nichts mehr mit der IT von heute zu tun. Jetzt braucht es ganz andere Kompetenzen. Und diese Expertise fehlt in einigen Unternehmen einfach, um die Digitalisierung entscheidend voranzubringen. Es braucht gutes Personal, um das Unternehmen auf das nächste Level bringen.
Für mich ist Digitalisierung vergleichbar mit dem Zinseszins-Effekt. Sprich: Wenn ich nichts auf dem Konto habe, kommt am Ende auch nichts heraus. Digitalisierung passiert ja nicht einmal und hört danach auf, sie baut immer mehr aufeinander auf. Unternehmen müssen also erstmal vieles digitalisieren und erst danach kommen Themen, die Spaß machen und das Unternehmen voranbringen. Wenn ein Unternehmen also gar nicht erst mit der Digitalisierung beginnt, braucht es über KI und Co. gar nicht erst nachdenken. Das Problem von kleinen und mittelständischen Unternehmen ist also, dass sie gar nicht erst anfangen.
Wie schaffen Sie es, einerseits immer digitaler zu werden und andererseits den Austausch mit Geschäftspartnern und Kunden zu intensivieren?
Wiegel: Das ist ein ganz spannendes Thema, das durch die Coronapandemie enorm an Dynamik gewonnen hat. Wir haben gelernt, dass wir Menschen für den Austausch brauchen und nicht alles über Teams oder ChatGPT regeln können. Wir müssen eines verstehen: Digitalisierung ist kein Selbstzweck – und darf nie Selbstzweck sein. Nur weil ich etwas digitalisieren kann, ist noch nicht die Frage beantwortet, ob ich es digitalisieren soll. Wir müssen entscheiden, wo Digitalisierung so genutzt werden kann, dass sie einen Mehrwert bietet. Dort, wo sie für das Unternehmen und die Kunden einen Mehrwert bietet, ist sie als Ergänzung oder Substitut sinnvoll.
Für uns heißt das: Wir wollen besser verstehen, wie wir die Kundenmomente entlang der gesamten Customer-Journey so gestalten können, dass wir die beste Mischung zwischen digitalem und menschlichem Touch hinbekommen. Wenn man die Kundenerfahrung von vorne bis hinten komplett versteht, kann man sie durch digitale oder menschliche Komponenten verbessern. Digitalisierung und der Austausch mit dem Kunden sind deshalb für mich kein Gegensatz.
Warum bleiben Service-Leistungen auch im digitalen Zeitalter ein entscheidendes Mittel für die Kundenbindung?
Wiegel: Service hat ja ein breites Spektrum. Warum unsere Plattform „medias“ im Vergleich zu anderen Plattformen so erfolgreich war: Weil wir über die reine Transaktion hinausgegangen sind. Gerade in unserem technischen Umfeld müssen wir den Kunden mehr bieten als Produkte, die sie über die Plattform kaufen können. Deshalb sind die sogenannten Consulting Services über „medias“ ein ganz entscheidender Faktor.
Heißt: Die Kunden können Serviceleistungen nutzen, die zuvor nur über das Telefon oder einen Ingenieur hätten gelöst werden konnten. Dadurch entsteht ein echter Mehrwert, weil die Serviceleistungen 24/7 abrufbar sind. Wenn der Service den Kunden also einen Mehrwert liefert, ist er ein Gamechanger in der Kundenbindung. Im nächsten Schritt müssen wir dann die zielgerichtete Steuerung der Serviceleistung so einfach wie möglich machen. Wir müssen also erkennen, welcher Kunde zu welchem Zeitpunkt welche Serviceleistung braucht.
Welche konkreten Anwendungsfälle sehen Sie in Ihrem Unternehmen für Künstliche Intelligenz?
Wiegel: Mit dem Thema beschäftige ich mich schon seit Längerem. Jetzt zeigt das Beispiel ChatGPT allen, was in Sachen KI möglich ist. Dahinter steckt eine unglaubliche Maschinerie an Themen, die uns in den nächsten Jahren beschäftigen werden. Die meisten können sich vermutlich noch gar nicht ausmalen, was da kommen wird.
Auch für Schaeffler Industrial sind die Anwendungsfälle vielfältig. Ich möchte deshalb nur ein Beispiel nennen: Wir haben heute hunderttausende Produkte, die wir verkaufen. Sie werden in über zwei Dutzend Werken weltweit gefertigt. Das muss gesteuert werden. Dahinter stecken Lieferketten mit tausenden Lieferanten, die Kleinstteile zur Fertigung anliefern. Das ist enorm kompliziert zu managen. Heißt für uns: Je besser wir diesen Werken sagen können, wann wir welches Teil an welchem Ort brauchen, umso besser können wir die Supply-Chain steuern. Das ist ein prädestinierter Anwendungsfall für Künstliche Intelligenz. Dieses Forecasting sehe ich als eines der entscheidenden Themen für den Einsatz von KI.