Wenn es um Mobilität geht, laufen Reifen oftmals unter dem Radar und werden eher als Selbstverständlichkeit denn als Besonderheit wahrgenommen. Dabei steht doch speziell die Automotive-Branche unter enormem Transformationsdruck. Es ist wenig überraschend, dass davon auch die Drittanbieterindustrie samt der klassischen Zulieferer betroffen ist.
Trotz der disruptiven Zeiten sieht sich der Reifenhersteller Michelin dennoch gut aufgestellt: Pioniergeist und Innovationskraft sind fest verankert in der Marken-DNA. Auf dem Weg zum vielseitigen Mobilitätsanbieter füllt das Unternehmen, dank vieler mutiger Schritte und bisweilen auch schmerzhafter Entscheidungen, immer stärker die Rolle eines wegweisenden Taktgebers aus. Kurzum: Michelin übernimmt Verantwortung weit über den Felgenrand hinaus.
Mehr als nur Reifen
Dies kommt insbesondere bei der Forschung und Entwicklung spezieller ressourcenschonender Materialien sowie bei der Umsetzung innovativer Recyclingstrategien und nachhaltiger Produktionsansätze im Zuge der Reifenherstellung zum Tragen. „Wir arbeiten hart daran, dass Michelin-Produkte und deren ökologischer Fußabdruck sowohl jeder fahrzeugspezifischen Anforderung, ob Verbrenner-, Elektro- oder Wasserstoffauto, als auch dem ambitioniertesten politischen und gesellschaftlichen Klimaziel ohne Wenn und Aber standhalten“, sagt Maria Röttger, President Michelin Europa Nord.
Dafür fährt das Unternehmen mehrgleisig und setzt an unterschiedlichen Schnittstellen links und rechts des Reifens an. Die Strategie lautet „Michelin in Motion“. Und sie befasst sich explizit mit dem weiten Feld der Verbundwerkstoffe. Die Botschaft: Michelin ist viel mehr als nur ein Reifenhersteller – es ist ein echtes Hightech-Unternehmen. Was genau damit gemeint ist, erklärt Florent Menegaux, CEO der Michelin-Gruppe. „Wir erweitern unsere globale Führungsrolle, indem wir von unserem Know-how mit dem Ziel profitieren, auch in technologisch anspruchsvollen und wachstumsorientierten Märkten wie dem Gesundheitswesen, in der Industrie, im Bau oder in der Luft-, Raum- und Schifffahrt Fuß zu fassen.“ Diese Märkte reichen weit über die Mobilität hinaus und zeigen, dass sich Michelin auch zu einem führenden Hersteller für Verbundwerkstoffe entwickelt.
Mehrgleisig unterwegs, Nachhaltigkeit als Kernstrategie
Bis 2030 soll das Geschäft mit Aktivitäten außerhalb des klassischen Reifenhandels auf mehr als ein Drittel des Gesamtumsatzes steigen, auch unterstützt durch wertsteigernde Fusionen, Übernahmen und Kooperationen. Zu den ehrgeizigen Konzernvorgaben gehören neben einem positiven Betriebsergebnis – 2026 sollen es 4,2 Milliarden Euro sein – eine erhöhte Rentabilität und ein sich stets verbessernder Stakeholder-Value.
So setzt Michelin auf dem Weg in eine nachhaltigere Zukunft immer neue Meilensteine wie die erste Altreifen-Recyclinganlage in Uddevalla (Schweden), die noch 2025 ans Netz geht. Zunächst sollen dort pro Jahr rund 35.000 Tonnen Altpneus verarbeitet und mit einer innovativen Pyrolysetechnik wertvolle Rohstoffe wie Ruß und Öl zurückgewonnen werden. Das Joint Venture mit den Spezialisten Antin Infrastructure und Enviro wurde 2023 gegründet. Perspektive: Allein in Europa fallen jährlich 3,5 Millionen Tonnen Altreifen an.
Recycling und die Reduktion von Reifenabrieb
Zudem forscht Michelin intensiv daran, den Reifenabrieb weiter zu reduzieren – zwischen 2015 und 2020 waren es fünf Prozent. Nur ein Zwischenziel. Michelin bleibt den Partikeln weiter akribisch auf der Spur. Gemeinsam mit der staatlichen französischen Forschungsorganisation CNRS (Centre national de la recherche scientifique) und der Universität Clermont Auvergne wird im gemeinsamen „BioLab“ der biologische Abbau von Verschleißpartikeln erforscht.
Daraus ist das Analysesystem „Sample“ entstanden, das die Partikel in unmittelbarer Nähe des Reifens erfasst, sortiert, zählt und charakterisiert. Die Ergebnisse dieses ergänzenden Ansatzes legt Michelin offen und befürwortet die von der Europäischen Kommission verabschiedete strenge Euro-7-Norm ausdrücklich. Im Zuge dieser weitreichenden Maßnahmen und Investitionen schlägt Michelin darüber hinaus zwei Fliegen mit einer Klappe und entwickelt seine Standorte von konventionellen Produktionsstätten ganzheitlich weiter zu fortschrittlichen Science-Hubs.
Die Reifen selbst führen in puncto Nachhaltigkeit nach wie vor ein Schattendasein. Dabei bieten sie großes Nachhaltigkeitspotenzial. „Es gibt bei Autoreifen enorme Qualitätsunterschiede in Sachen Zuverlässigkeit und Umweltverträglichkeit. Leider weiß das kaum jemand. Das bestätigt auch unsere jüngste Studie“, bedauert Röttger.
Demnach achten die Befragten vor allem bei der Ernährung (46,7 Prozent), bei Haushalt/Wohnen (28,5 Prozent) und bei Kleidung/Mode (18,9 Prozent) auf Umweltaspekte. Auch die Kategorie Mobilität/Reisen (15,2 Prozent) haben die Umfrageteilnehmer noch im Blick, wenn es um eine nachhaltigere Lebensweise geht. Reifen erscheinen als Hebel dafür indes nicht auf dem Radar: Acht von zehn Befragten war gar nicht bewusst, dass es klimaschonender produzierte Reifen gibt.
Reifen im Fokus: Qualität und Umweltverträglichkeit
Dabei gibt es Lösungen: Michelin etwa untersucht schon lange die Bestandteile eines Reifens sehr genau, forscht daran, die rund 200 Einzelkomponenten fossilen Ursprungs durch nachhaltige Materialien wie Orangenschalen oder Sonnenblumenöl zu ersetzen, und verarbeitet beispielsweise auch biologisch recyceltes PET aus Plastikflaschen zu technischen Fasern.
„Für die Reifenindustrie ist das eine Chance, die Verbraucher beim Thema Nachhaltigkeit noch besser mitzunehmen und aufzuklären“, unterstreicht Röttger. Und weiter: „Wer auf umweltverträglichere Premiumreifen wie die von Michelin setzt, setzt auch auf Langlebigkeit. Sie lassen sich nicht nur zuverlässig bis zur gesetzlichen Mindestprofiltiefe von 1,6 Millimetern fahren, sondern sie bieten auch gegen Ende ihrer Laufzeit noch Leistungsreserven.“ Weniger Rädertausch bedeute eben auch weniger Ressourcenverbrauch.
Wenn alle Reifen bis zur Mindestprofiltiefe genutzt würden, könnten in Europa jährlich rund 128 Millionen Altreifen eingespart und der CO2-Ausstoß um bis zu 6,6 Millionen Tonnen reduziert werden. Zudem belasten Michelin-Reifen laut einer 2022 veröffentlichten ADAC-Studie die Umwelt deutlich geringer als andere Pneus, oftmals Budgetprodukte, weil sie rund 28 Prozent weniger Abrieb erzeugen.
Allein auf Europas Straßen fallen pro Jahr 500.000 Tonnen Abrieb an – so viel wie das Gewicht von rund 50 Pariser Eiffeltürmen. Röttger: „Umso wichtiger ist es, mit innovativen Technologien und nachhaltigen Strategien gegenzusteuern, das heißt Verantwortung zu übernehmen. Moderne Mobilität von morgen, dafür stehen wir bei Michelin!“
Wir forschen weltweit intensiv mit rund 6.000 Mitarbeitenden daran, den gesamten Lebenszyklus eines Reifens umweltgerecht zu gestalten.
Maria Röttger, Michelin
DUP UNTERNEHMER-Magazin: Als Sie vor knapp drei Jahren die Leitung für Michelin Europa Nord übernommen haben, war Ihnen damals bewusst, dass Sie die weltweit erste Frau in dieser Funktion seit der globalen Neuorganisation des Unternehmens 2018 sind?
Maria Röttger: Das hat für mich tatsächlich eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Als Managerin von Michelin ist mir wichtig, mit unterschiedlichen Perspektiven zu arbeiten, und die ergeben sich aus unterschiedlichen Erfahrungen, Hintergründen, Persönlichkeiten. Ob Mann oder Frau, spielt für mich weniger eine Rolle, sondern vielmehr, was wir als Team mit unterschiedlichen Hintergründen bewegen. Diese Vielfalt können wir noch weiter ausbauen.
Gibt es ein übergeordnetes Unternehmensmotto, ein grundsätzliches Michelin-Credo?
Röttger: Ja. Es lautet: die Zukunft selbst gestalten. Sich vom Markt oder von anderen Faktoren treiben zu lassen war nie der Ansatz von Michelin. Stattdessen nehmen wir unser Geschick lieber selbst in die Hand. Ein Prozedere, das sich seit mehr als 130 Jahren bewährt.
Was versteht Michelin konkret unter dem Begriff Nachhaltigkeit?
Röttger: Wir forschen weltweit intensiv mit rund 6.000 Mitarbeitenden daran, den gesamten Lebenszyklus eines Reifens umweltgerecht zu gestalten. Dabei sind wir auf einem guten Weg. Die von uns verwendeten Materialien bestehen schon jetzt durchschnittlich zu 30 Prozent aus recycelten Werkstoffen. 2030 sollen es bereits 40 Prozent sein, und 2050 soll ein Michelin-Reifen zu 100 Prozent nachhaltig produziert werden.
Wie bekommt Michelin den umweltschädlichen Abrieb in den Griff?
Röttger: Zwischen 2015 und 2020 konnte der Abrieb eines Michelin-Premiumreifens um fünf Prozent verringert werden – das entspricht circa 100.000 Tonnen. Zudem monitoren wir das gesamte Reifenleben, legen sogar unsere Studien offen. Umweltbewusstes Handeln liegt in unser aller Verantwortung.
Die Nutzungsphase macht insgesamt mehr als 80 Prozent des ökologischen Fußabdrucks eines Reifens aus. Wie passen die Stichworte Euro-7-Norm und Langlebigkeit dazu?
Röttger: Wenn die neuen Grenzwerte der Euro-7-Norm vom 1. Juli 2028 an in Kraft treten, können wir auf knapp ein Vierteljahrhundert an Erfahrungen bei der Reduzierung von Reifenabrieb zurückblicken. Bereits seit 2005 forschen wir intensiv an der Entstehung, Zusammensetzung und den Auswirkungen von Mikropartikeln auf die Umwelt. So arbeiten wir an neuen Reifenarchitekturen, innovativen Laufflächenprofilen oder neuartigen Verbundwerkstoffen.
Folge: Bei zwei aktuellen Produkten konnte der Reifenabrieb um 20 beziehungsweise 25 Prozent im Vergleich zu den Vorgängern gesenkt werden. Sie können tatsächlich bis zur gesetzlichen Untergrenze der Profiltiefe von 1,6 Millimetern unbedenklich gefahren werden. Denn auch der zu frühe Reifentausch ist nicht umweltsorgsam.
Was ist Gewerbe- wie auch Privatkunden ein entsprechendes nachhaltiges Produkt wert?
Röttger: Michelin hat diese Frage für sich klar beantwortet: Ein Reifen muss heutzutage nachhaltigen Ansprüchen genügen. Darüber gibt es keine Diskussion. Spätestens da trennt sich die Spreu vom Weizen. Denn ein Budgetprodukt kann im Gegensatz zum Premiumreifen Sicherheit und Langlebigkeit eben nicht gleichzeitig leisten.