Hypothesen

Krise: Ein Blick in die Welt danach

In seinem viel beachteten Essay „Die Corona-Rückwärts-Prognose: Wie wir uns wundern werden, wenn die Krise ‚vorbei' ist" hat der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx die Welt nach dem Virus skizziert. Mit überraschend positiver Aussicht. Wir haben daraus 13 Szenarien zusammengestellt, die Unternehmer kennen sollten und die uns Mut machen.

25.03.2020

Gleich zu Beginn seines Beitrags zur Corona-Diskussion, die aktuell die ganze Welt in Atem hält, prägt Horx einen entscheidenden Satz. Er werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn „vorbei sein wird”, und alles wieder zur Normalität zurückkehre. Seine Antwort: „Niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt.“

Um sich einer Welt nach dem Virus zu nähern, nutzt der Zukunftsforscher einen Prozess, den er RE-Gnose nennt. Im Gegensatz zur PRO-Gnose wird mit dieser Technik von der Zukunft aus zurück ins Heute geschaut. Denn, wenn wir üblicherweise in die Zukunft schauen, würden wir ja meist nur die Gefahren und Probleme auf uns zukommen sehen. „Eine Angst-Barriere, die uns von der Zukunft trennt“, so Horx. Re-Gnosen hingegen würden unseren inneren Wandel in die Zukunftsrechnung einbeziehen.

Wir haben 13 Szenarien aus Horx‘ Analyse herausgefiltert, die uns aus der Perspektive von Herbst 2020 (einer Welt nach dem Virus) einen Blick zurückwerfen lassen:

1. Laut Horx werden wir im Herbst 2020 darüber wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung geführt haben. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre hat die Erkenntnis Einzug gehalten, dass Verzichte nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern sich sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Die uns auferlegte körperliche Distanz hat neue Nähe kreiert und alte Bindungen gestärkt.

2. Auch die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, hat nach der Krise wieder angezogen. Dies zeigt sich nicht nur, aber auch in der Stimmung bei Fußballspielen.

3. Die Abwehrhaltung gegen den Einsatz digitaler Technik wie Tele- und Videokonferenzen oder E-Learning, die sich in der Praxis bewährt haben, ist aufgegeben worden. Das Homeoffice und die damit verbundene Flexibilität sind für Viele zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

4. Auch scheinbar veraltete Kulturtechniken, wie lange Telefonate oder das Beachten von Messages haben eine Renaissance erlebt. Man kommuniziert tatsächlich wieder, es ist eine neue Kultur der Erreichbarkeit und der Verbindlichkeit entstanden.

5. (Gerade junge) Menschen, die vor lauter Hektik bislang quasi nie zur Ruhe gekommen sind, machen plötzlich ausgiebige Spaziergänge oder lesen Bücher – Reality Shows verlieren in der Wahrnehmung rasend an Wert. Out geworden ist Zynismus, die lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe zu halten. Die Übertreibungs-Angst-Hysterie in den Medien hat sich, nach einem kurzen ersten Ausbruch, in Grenzen gehalten.
Krisen, so Horx im Zwischenfazit „wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen, sie überflüssig machen.“

6. Laut Horx werden wir uns im Herbst 2020 wundern, dass schließlich doch schon im Sommer Medikamente gefunden wurden, welche die Überlebensrate erhöhten. So wurde Corona zu einem Virus, mit dem wir umgehen müssen wie zum Beispiel mit einer Grippe. Medizinischer Fortschritt half. Aber nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene Künstliche Intelligenz, die ja bekanntlich alles lösen kann, hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt. Nur wenige glauben heute noch an Technologie als Allheilmittel. Der Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen.

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7. Wir staunen rückwärts, wieviel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden ist.

8. Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass es tatsächlich zu so etwas wie einem »Zusammenbruch« kam, der vorher bei jeder noch so kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen wurde. Und das obwohl es einen »schwarzen April« gab, einen tiefen Konjunktureinbruch und einen Börseneinbruch von 50 Prozent, obwohl viele Unternehmen pleitegingen, schrumpften oder in etwas völlig Anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt.

9. Heute im Herbst, so Horx, gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die globale Just-in-Time-Produktion, mit riesigen international verzweigten Wertschöpfungsketten hat sich überlebt. Sie wird gerade neu konfiguriert. Überall in den Produktionen und Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert, das Handwerk erlebt eine Renaissance. Das Global-System driftet in Richtung GloKALisierung: Lokalisierung des Globalen.

10. Dem Zukunftsforscher zufolge werden wir uns wundern, dass sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt nämlich spielt laut Horx‘ Re-Gnose Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.

Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?

fragt der Forscher.

11. Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass US-Präsident Donald Trump im November abgewählt wird, wagt Horx zu skizzieren. Von wem auch immer getragen: eine bösartige, spaltende Politik passt nicht zu einer Corona-Welt. Das Destruktive im Populismus hat zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen. Politik in ihrem Ur-Sinne als Formung gesellschaftlicher Verantwortlichkeiten bekam dieser Krise eine neue Glaubwürdigkeit, eine neue Legitimität.

12. Auch die Wissenschaft hat in der Bewährungskrise eine erstaunliche Renaissance erlebt. Virologen und Epidemiologen wurden zu Medienstars, aber auch »futuristische« Philosophen, Soziologen, Psychologen, Anthropologen, die vorher eher am Rande der polarisierten Debatten standen, erhielten Stimme und Gewicht zurück.

13. Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie Sauerbier angeboten wurden.

Horx‘ Fazit: „Ein Virus wirkt als Evolutionsbeschleuniger“. Und weiter: „Die neue Welt nach Corona – oder besser mit Corona – entsteht aus der Disruption des Megatrends Konnektivität“ (oder Globalisierung). Deren Unterbrechung – durch Grenzschließungen, Separationen, Abschottungen, Quarantänen – führt aber nicht zu einem Abschaffen der Verbindungen. Sondern zu einer Neuorganisation. Und diese werde „unsere Welt zusammenhalten und in die Zukunft tragen“. Laut Horx bedeute dies einen „Phasensprung der sozio-ökonomischen Systeme“.

Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist, so der Zukunftsforscher. Eine der aus seiner Sicht stärksten Visionen, die das Coronavirus hinterlässt, sind die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Die zweite Vision sendeten uns die Satellitenbilder, die plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens frei von Smog zeigen.“ 2020 wird der CO2-Ausstoß der Menschheit zum ersten Mal fallen. Diese Tatsache wird etwas mit uns machen“, so Horx. Er endet mit dem Appell: 
„System reset.
 Cool down! 
Musik auf den Balkonen! 
So geht Zukunft.“

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Matthias Horx

ist Publizist und hat 1998 das Zukunftsinstitut mit Sitz in Frankfurt und Wien gegründet.