Nachhaltigkeit

„Das ist Diebstahl an unseren Enkeln“ – Partha Dasgupta über Naturkapital

Nachhaltigkeit Der weltweit angesehene und vielfach preisgekrönte indisch-britische Ökonom Sir Partha Dasgupta, emeritierter Professor an der University of Cambridge, gilt als einer der wichtigsten Vordenker einer neuen ökonomischen Sicht auf die Umwelt. In seinem neuen Buch „Der Wert der Natur“ fordert er eine radikale Neuausrichtung der Volkswirtschaft: weg vom Fokus auf das Bruttoinlandsprodukt, hin zu einer Bilanzierung des Naturkapitals. Ein Gespräch über den blinden Fleck der Ökonomie, den Preis des Fortschritts – und darüber, warum Menschen die Natur nicht länger als Gratisgut behandeln dürfen.

Sinnbild, Naturkapital Sir Partha Dasgupta in der Natur

08.12.2025

DUP UNTERNEHMER-Magazin: Wann haben Sie zum ersten Mal erkannt, dass die Natur nicht einfach da ist, sondern ein Wert, den man verlieren kann?

Partha Dasgupta: Das war schon während meiner Schulzeit in Indien. Ich hatte einen wunderbaren Geografielehrer, der die Landschaft zum Leben erweckte, wie ich es heute noch erinnere. Diese Neugier auf die Natur hat mich nie ganz losgelassen, auch wenn ich zunächst Physik und Mathematik studierte. Schon in meiner Doktorarbeit – das war 1968 – tauchte die Natur als Teil eines ökonomischen Modells auf. Ich fragte: Wie viele Menschen sollte es auf der Erde geben, wenn man das Glück maximieren möchte – unter der Annahme, dass mehr Menschen zwar mehr Leben bedeuten, aber weniger Lebensqualität? Schon damals habe ich Ressourcen und Umwelt als Begrenzungsfaktor gedacht.

Sie sprechen in Ihrem Buch vom „blinden Fleck“ der Ökonomie. Warum haben wir gelernt, alles zu bewerten, nur nicht die Natur?

Dasgupta: Das hat historische Gründe. Die Ökonomie entstand zur Zeit der industriellen Revolution, also in einer Epoche, in der Fortschritt alles war. Adam Smiths Buch „Der Wohlstand der Nationen“ erschien 1776, genau am Beginn dieser Ära. Man war berauscht von der Idee, den Lebensstandard zu erhöhen, bessere Straßen, Häuser, Wärme zu schaffen. Gleichzeitig war England eine Kolonialmacht. Es konnte seine Rohstoffe zum Beispiel aus den Tropen importieren – und schuf dort Umweltprobleme. So entstand eine Sichtweise, die die Natur als unerschöpflich betrachtete. Das war ein Fehler, der sich tief in die ökonomische Theorie eingeschrieben hat.

War dieser Fehler bloß Gedankenlosigkeit – oder Absicht?

Dasgupta: Beides. Die Ignoranz gegenüber ökologischen Grenzen passte einfach zu einem Zeitalter, das den technischen Fortschritt vergötterte. Es war bequem, die Natur auszublenden. In gewisser Weise sind wir bis heute Gefangene dieser Denkweise.

Wenn man die Natur als Kapital betrachtet – wer ist dann eigentlich für die Buchhaltung zuständig? Und was passiert mit Dingen, die man gar nicht messen kann, etwa dem Vogelgesang am Morgen?


Dasgupta: Natürlich gibt es Werte, die sich schwer quantifizieren lassen. Aber das bedeutet nicht, dass sie wertlos sind. Denken Sie an zwei identische Häuser – eines steht in einem Slum, das andere hat einen Ausblick auf eine grüne Landschaft. Der Preisunterschied zeigt, dass die Aussicht einen ökonomischen Wert hat. Das nennt man „hedonistische Bewertung“. Das Problem ist nicht, dass Märkte nichts abbilden, sondern, dass sie es oft falsch abbilden. Deshalb brauchen wir Institutionen, die Marktversagen korrigieren – durch Regeln, gemeinschaftliche Vereinbarungen oder neue Preisstrukturen. Das könnten zum Beispiel für die Natur die Vereinten Nationen übernehmen.

Viele Länder konzentrieren sich fast ausschließlich auf den Klimawandel. Warum genügt das nicht?


Dasgupta: Der Fokus auf CO₂ ist notwendig, aber er hat die Debatte verzerrt. Wir sprechen fast nur noch über Kohlenstoffdioxid – und vergessen, dass es beim Klimaschutz auch noch um Regenwälder, Korallenriffe, Feuchtgebiete, Böden oder Fischbestände geht. Klimawandel ist nur ein Symptom. Die Obsession mit CO₂ lässt uns die Vielschichtigkeit der Natur übersehen.

Das klingt, als würden Sie eine Art Bilanzierung der Natur fordern.


Dasgupta: Genau. Wir messen Wachstum in Form von Bruttoinlandsprodukten – das sind jährliche Kapitalflüsse. Aber entscheidender ist doch der Bestand: also unser Vermögen. Wenn Sie als Unternehmer wissen wollen, wie Ihr Betrieb dasteht, betrachten Sie ja nicht nur den Umsatz, sondern auch Ihr Anlagevermögen. So sollten auch Staaten denken. Unser reales Vermögen besteht aus drei Säulen: aus produziertem Kapital, Humankapital – und Naturkapital. Nur wenn alle drei zunehmen, wächst unser Wohlstand.

Das klingt so, als würde es die Natur kalt und mechanisch machen, wenn man sie beziffert.

Dasgupta: Ich sehe das anders. Wir müssen endlich erkennen, dass die Natur sowohl Mittel als auch Zweck ist. Ich habe es einmal so formuliert: „Von Montag bis Samstag zerstören wir sie, und am Sonntag beten wir sie an.“ Das ist aus meiner Sicht Heuchelei. Wir sind in die Natur eingebettet, stehen nicht außerhalb von ihr. In uns leben Millionen Mikroorganismen, ohne die wir nicht existieren könnten. Genauso brauchen wir die Blätter der Bäume, um saubere Luft zu atmen. Die Idee, dass der Mensch getrennt von der Natur sei, ist wissenschaftlich falsch und moralisch gefährlich.

Wie lässt sich dieses Denken in ökonomisches Handeln übersetzen?

Dasgupta: Indem wir anfangen, für das zu bezahlen, was wir verbrauchen. Heute nutzen wir in den meisten Fällen die Natur, ohne einen Preis dafür zu zahlen. Das ist, als würden wir im Supermarkt Waren im Wert von hundert Pfund nehmen, aber nur sechzig zahlen, weil an der Kasse vielleicht nicht richtig abgerechnet wird. Der Rest ist Diebstahl – an unseren Enkeln.

Das heißt, wir müssten sogar Eintritt für den Waldspaziergang am Wochenende zahlen?


Dasgupta: Genau, das könnte man so herunterbrechen. In vielen Ländern zahlt man bereits Eintritt für Nationalparks oder Schutzgebiete, um deren Pflege zu finanzieren. Das ist im Prinzip nichts anderes. Entscheidend ist: Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Natur nicht kostenlos ist. Sie erbringt Leistungen, und Leistungen haben ihren Preis.

Sie schlagen in Ihrem Buch auch vor, Schifffahrtsrouten auf den Weltmeeren zu bepreisen. Wie soll das funktionieren?


Dasgupta: Etwa 70 Prozent der Erdoberfläche sind Ozeane. Sie gehören niemandem – also eigentlich uns allen. Jedes Jahr werden Waren im Wert von rund zehn Billionen Dollar über die Meere transportiert, ohne dass jemand eine Nutzungsgebühr dafür bezahlt. Würde die Weltgemeinschaft, sagen wir, zwei Prozent Maut erheben, kämen Hunderte Milliarden Dollar zusammen. Mit solchen Einnahmen könnten wir Länder wie Brasilien dafür bezahlen, den Regenwald zu schützen. Es wäre nur konsequent: Wer globale Güter nutzt, soll auch für ihren Erhalt zahlen.

Viele Unternehmerinnen und Unternehmer fragen sich, warum sie Biodiversität überhaupt ernst nehmen sollten – schließlich steht am Ende der Bilanz der Cashflow als wichtigster Wert. Was entgegnen Sie?

Dasgupta: Das ist ein berechtigter Einwand. Ein CEO eines kleinen oder mittlereren Unternehmens kann durch sein Verhalten die globale Biodiversität kaum ­beeinflussen. Aber große Unternehmen – Ölkonzerne, Lebensmittelkonzerne – tragen erhebliche Verantwortung. Doch solange sie für Umweltschäden nichts ­zahlen müssen, handeln sie rational, wenn sie weitermachen wie bisher. Deshalb sage ich: Wir müssen Institutionen schaffen, die Preise setzen, die die wahren Kosten widerspiegeln. Moral reicht nicht, wir brauchen ökonomische Mechanismen.

Gibt es Länder, die das bereits tun?


Dasgupta: Ja, einige. Chile hat eine Abteilung für Naturkapital auf nationaler Ebene eingerichtet. Ich war bei der Eröffnung dabei. Auch Costa Rica, Neuseeland und Kanada integrieren Naturkapital zunehmend in ihre politischen Entscheidungen. Großbritannien führt ergänzende Konten, in denen der Zustand von Mooren, Flüssen oder Küsten festgehalten wird. Das sind qualitative Daten, sie zeigen die Gesundheit der Ökosysteme. Das ist der richtige Weg.

Und die Europäische Union?

Dasgupta: Ich verfolge die Entwicklungen in der EU nicht im Detail. Aber grundsätzlich gilt: Nationale Volkswirtschaften brauchen Bestandsrechnungen, nicht nur Kapitalflussrechnungen. Es geht darum, Vermögen zu messen, nicht nur Einkommen. Das ist ökonomisch logisch. Denn niemand würde den Zustand seines Unternehmens nur nach den Monatsumsätzen beurteilen.

Wenn Sie an die nächsten Generationen denken – werden unsere Kinder und Enkelkinder für die Nutzung der Natur zahlen müssen?


Dasgupta: Nicht erst sie sollten es tun müssen. Wir sollten heute damit beginnen, das in Rechnung zu ­stellen. Wenn wir das nicht tun, stehlen wir von ihnen Natur, Lebensqualität, Wohlstand. Wir sind die Gene­ra­tion, die von einem vollen Konto lebt, ohne einzuzahlen. Das ist nicht nachhaltig – weder ökonomisch noch moralisch.

Portrait, Sir Partha Dasgupta

Sir Partha Dasgupta

ist emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Cambridge. In seinen Forschungen befasst er sich mit Entwicklungs- und Wohlfahrtsökonomie, der Ökonomie des technologischen Wandels und besonders mit Umwelt- und Ökologischer Ökonomie. Er ist Mitglied zahlreicher internationaler wissenschaftlicher Gesellschaften und wurde 2002 in den britischen Ritterorden aufgenommen