Deutsche Bahn

„Bahnsinn Riedbahn“: Wie die Deutsche Bahn mit radikaler Offenheit Vertrauen zurückgewinnt

Mit einer Baustelle, der siebenteiligen Serie „Bahnsinn Riedbahn” und ermutigender Ehrlichkeit will die Deutsche Bahn zeigen, dass sich Zuversicht auszahlt. Ein ehrgeiziges Projekt, mit dem die Bahn kommunikativ ins Risiko ging – das aber auch den Kulturwandel bei der Bahn dokumentiert.

Die Riedbahn-Strecke aus der Vogelperspektive, als Aufmacherbild für einen Bericht über die Dokumentation Bahnsinn Riedbahn

11.06.2025

Fünf Monate lang herrschte Stillstand auf einer der wichtigsten Bahnstrecken Deutschlands: Die Riedbahn zwischen Frankfurt am Main und Mannheim – Rückgrat des Fern- und Güterverkehrs – wurde unter Vollsperrung zwischen dem 15. Juli und dem 14. Dezember 2024 generalsaniert. Es war ein Projekt mit Risiken auf allen Ebenen: operative Komplexität, öffentliche Aufmerksamkeit, logistisches Neuland. Und: mit Kamerabegleitung.

Denn die Deutsche Bahn entschied sich, die Bauarbeiten entlang der Strecke filmisch zu dokumentieren – ohne Skript, mit offenem Ausgang. Herausgekommen ist die Serie „Bahnsinn Riedbahn“: sieben Folgen, abrufbar auf YouTube und Joyn (siehe Infokasten S. 95), in denen nicht nur die Technik, sondern vor allem der Mensch im Mittelpunkt steht. Die Bahn zeigt ein Team, das gegen die Zeit und alle Skepsis kämpft. Und letztlich den Beweis antritt: Wandel ist möglich, auch in Deutschland.

Vom Piloten zur Plattform

Was als internes Format des Veränderungsmanagements begann, wurde durch eine Pilotfolge so überzeugend, dass der Konzern es freigab. Der Grund­gedanke: Wenn wir selbst nicht glauben, dass wir Großprojekte umsetzen können – wer soll es dann tun? Die Riedbahn ist nicht nur ein Sanierungsfall, sondern Pilotprogramm für das, was in puncto Sanierung anderen Streckenabschnitten in Deutschland noch bevorsteht.

Über 40 Strecken will die Bahn in ähnlicher Weise erneuern – Berlin–Hamburg steht als Nächstes an. Doch mit Technik allein lässt sich kein Kulturwandel gestalten. Deshalb erzählt „Bahnsinn“ nicht nur von Maschinen, sondern von Haltung, Verantwortung, Teamgeist und Mut.

Was Unternehmen daraus lernen können

Die Bahn – oft als Sinnbild deutscher Behäbigkeit gescholten – wählte mit der „Bahnsinn“-Dokumentation einen untypischen Weg: Sie zeigt ihre Schwächen, ihre Zwischenstände, ihre Improvisation. Die Bahn öffnet sich – und gewinnt Verständnis. Die Projektverantwortlichen um Jan Rentzow, Creative Director Mobilization Communications bei der Deutschen Bahn, zeigen mit großer Authentizität, dass Kommunikation wirksam werden kann, wenn sie nicht kon­trolliert, sondern einlädt.

Die Serie hat bereits über zwei Millionen Aufrufe auf YouTube erhalten – mit ungewöhnlich viel Zustimmung. Die Kommentarsektion liest sich wie ein Reality-Check für die vernachlässigte Infrastruktur­debatte – und für Menschen, die wollen, dass Dinge wieder gelingen. Die Beteiligten, vom Monteur bis zum Bahnchef, werden erlebbar. Und ausgerechnet eine Großbaustelle wird zum Modell für modernes Storytelling: radikal echt, überraschend bewegend – und strategisch klug. Ein Vorbild für andere Unternehmen.

"Wir wollen zeigen, dass es geht"

DUP UNTERNEHMER-Magazin: Warum erzählt die Deutsche Bahn eine Geschichte ausgerechnet über eine Großbaustelle?

Jan Rentzow: Die Riedbahn war mehr als nur eine Strecke, sie war ein Pilot. Zum ersten Mal hat die Bahn eine hochfrequentierte Verbindung – Frankfurt bis Mannheim – komplett über fünf Monate vom Netz genommen, um sie in einem Kraftakt zu sanieren. Für Pendler war das schmerzhaft, für Anwohnende laut, für die Organisation ein enormer Stresstest. Dass wir diesen Prozess dokumentiert haben, war zunächst gar nicht als externe Kommunikation gedacht. Wir wollten wissen: Gelingt uns das? Können wir den Mut, die Verantwortung und die Leistung der Menschen im Unternehmen sichtbar machen – und damit den eigenen, sich selbst erfüllenden Pessimismus brechen?

Also eine interne Motivationsmaßnahme?

Rentzow: Genau. Wir im Veränderungsmanagement wollten zeigen, dass Zuversicht erlaubt ist – und vorwärts trägt. Viele Kolleginnen und Kollegen im Konzern erleben seit Jahren das Gefühl, dass sie zwar alles geben, die Bahn aber trotzdem nicht das Image des ewigen Sanierungsfalls loswird. Es war wichtig, dem etwas zu entgegnen. Und zwar durch Realität. Die Doku zeigt, wie Menschen unter hohem Druck etwas stemmen, das vorher kaum jemand für möglich gehalten hat. Dass wir das öffentlich zeigen, war das Ergebnis interner Reaktionen: „Das müssen andere sehen.“

Kritiker sprechen trotzdem von einem PR-Projekt mit Kamerabegleitung.

Rentzow: Wenn, dann werben wir um Verständnis. Niemand hat sich da mit einer PR-Strategie vor die Baustelle gestellt. Wir zeigen in „Bahnsinn Riedbahn“ keine Erfolgsinszenierung, sondern Prozesse – mit Rückschlägen, Problemen, echten Menschen. Inklusive Fledermausfund, Nachtschichten und Lieferverzögerungen. PR ist ein Versprechen. Unsere Serie ist ein ­Einblick in ein System, das oft zu Unrecht unterschätzt wird.

Viele würden sagen: Die Bahn hat ein Imageproblem. Ist Transparenz das Heilmittel?

Rentzow: Transparenz allein nicht – aber sie ist die Voraussetzung. Was „Bahnsinn“ leistet, ist eine radikale Ehrlichkeit. Wenn der Bahnchef im Bordbistro keinen Kaffee bekommt, löscht das niemand raus, weil es real passiert ist. Wenn der Bauleiter sagt: „Ich habe den Film noch nicht gesehen, ich hatte keine Zeit – ich muss bauen“, dann hat das eine Wahrheit, die glaubwürdig ist. Und damit beginnt ein Kulturwandel: weg vom reinen Krisenmanagement, hin zu einem gemeinsamen Blick auf Lösungen.

Sie zeigen nicht nur Baustellen, sondern auch Menschen. Warum?

Rentzow: Weil die Bahn oft als abstrakter Koloss wahrgenommen wird. Aber sie lebt von ihren Mitarbeitenden. Unsere Serie porträtiert viele von ihnen – erfahrene Eisenbahner, Techniker, junge Leute in neuen Rollen. Einige von ihnen haben offen gesagt: „Ich bin nicht digital aufgewachsen, aber ich muss da jetzt durch.“ Das ist echter Wandel. Es geht um Menschen, die sich in Bewegung setzen – trotz Widerständen. Weil sie davon überzeugt sind, dass es richtig ist.

Was hat Sie bei der Produktion überrascht?

Rentzow: Die Ernsthaftigkeit. Der Respekt vor der Aufgabe. Und der Mut. Es wäre leicht gewesen, zu sagen: „Kamerateam? Bitte nicht. Wenn das schiefgeht, stehen wir da wie Trottel.“ Stattdessen haben wir gespürt: Die Leute lassen einen Moment mit uns zu. Nicht aus Eitelkeit, sondern weil sie verstanden haben, was zu gewinnen ist. In der Position der Bahn ist ein Tag Verzug bereits gefühltes Scheitern. Deshalb gab es die Haltung: Wenn ihr es dokumentiert, dann macht es richtig.

Gab es Momente, in denen Sie dachten: Das geht schief?

Rentzow: Natürlich. Wie fragil und komplex alles ist, zeigen wir immer wieder. Es gab einen Verdacht auf Bechsteinfledermäuse in einem Bauabschnitt. Der Fund dieser streng geschützten Art hätte den Zeitplan zum Kippen gebracht. Also musste nachts gearbeitet, kartografiert und umgeplant werden. Das ist Deutschland in der Praxis: Bürokratie, Artenschutz, Genehmigungen – aber alles in einem System, das trotzdem liefern muss. Aber es gab keine Ausrede, keinen Aufschub.

Was lässt sich daraus für andere Großprojekte ableiten – etwa die Großsanierung Berlin–Hamburg?

Rentzow: Ich beobachte ein großes Lernen in der DB. Die Erfahrung, dass es funktioniert hat, schafft Vertrauen – intern wie extern. Die Bahn weiß jetzt: Wenn sie sich traut, ehrlich zu sein, gewinnt sie mehr, als sie verliert. Und: Es hat sich gezeigt, dass Bauprojekte in Deutschland gelingen können, wenn man aufhört zu zaudern und anfängt zu machen.

Wie wurde die Serie aufgenommen – auch außerhalb der Bahn?

Rentzow: Alle sind überrascht. Die erste Folge wurde auf YouTube über 700.000-mal angesehen. Noch interessanter sind die Kommentare. Normalerweise erntet die Bahn bei jeder Kommunikation Spott und Sarkasmus. Diesmal war es: „Wow. Das hätte ich euch nicht zugetraut.“ Und: „Das zeigt, dass es auch anders geht.“ Genau das wollten wir erreichen.

Jan Rentzow

ist seit Februar 2019 Creative Director Mobilization Communications bei der Deutschen Bahn. Zuvor entwickelte der gelernte Journalist Kampagnen für Unternehmen, Medienhäuser und Agenturen