Digitale Assistenten, die Krankheiten vorhersagen, bevor sie entstehen. Künstliche Intelligenz, die Arztbesuche effizienter macht – und Vertrauen, das wichtiger wird denn je. Der Chef der Techniker Krankenkasse
Dr. Jens Baas erklärt, warum wir ohne KI den medizinischen Fortschritt verpassen, was Krankenkassen mit Tech-Giganten wie Apple und Google zu tun haben – und warum der Mensch trotzdem unersetzlich bleibt.
DUP UNTERNEHMER-Magazin: Wenn Sie an die Medizin der Zukunft denken, woran denken Sie zuerst?
Dr. Jens Baas: An Prozesse. Das klingt trocken, ist aber essenziell. Unser Gesundheitssystem funktioniert heute noch wie vor hundert Jahren: Der Weg zur richtigen Diagnose ist oft zufällig, abhängig vom jeweiligen Arzt, von Überweisungen, Erfahrung, Intuition. Was fehlt, ist Systematik und Datenbasierung.
Was heißt das konkret?
Baas: Ein Beispiel: Zwei Menschen mit identischer Krankheit können komplett unterschiedliche Behandlungspfade erleben – je nachdem, wo sie wohnen oder welchen Arzt oder welche Ärztin sie aufsuchen. Das ist weder effizient noch gerecht. Wir brauchen deshalb ein Gesundheitssystem, das konsequent auf Daten basiert, um Diagnosen, Therapien und Prozesse besser und verlässlicher zu machen.
Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz dabei?
Baas: Eine ganz zentrale, denn die Medizin wird datenbasierter. Künstliche Intelligenz wird enorme Datenmengen analysieren – Genomdaten, MRT- und Röntgenbilder, Vitaldaten. Ärztinnen und Ärzte treffen weiterhin die Entscheidung über die Therapie, aber es wird als Kunstfehler gelten, nicht auf die Unterstützung durch KI zu setzen.
Geht dabei nicht etwas Menschliches verloren?
Baas: Im Gegenteil. Wenn die KI Diagnosen vorbereitet, indem sie Bilder auswertet oder Risikoprofile erstellt, bleibt mehr Zeit für das, was Medizin ausmacht: das Gespräch mit Patientinnen und Patienten und der Blick aufs Ganze.
Der Trend geht hin zu KI-Agenten, die Menschen im Alltag unterstützen und ihren Alltag regeln. Wie reagiert eine Krankenkasse auf diesen Trend?
Baas: Wir müssen uns radikal neu aufstellen. Wenn die Entwicklung dahin geht, dass persönliche digitale Assistenten unser Leben organisieren – von Restaurantbuchung bis Gesundheitsberatung –, dann muss auch eine Krankenkasse ansprechbar sein über genau diesen Assistenten. Wer dann sagt: „Ruf uns bitte an“, ist raus.
Heißt das, Sie planen eigene KI-Assistenten?
Baas: Denkbar ist auch ein personalisierter TK-Avatar, quasi eine Vertrauensperson, die den Menschen und seine Historie kennt, die letzte Interaktion mit der Krankenkasse – und die bei Fragen in Echtzeit unterstützen kann.
Welche technischen Herausforderungen bringt das mit sich?
Baas: Nicht die Avatare sind das Problem, sondern die Prozesse im Hintergrund. Jeder Service muss in Echtzeit funktionieren. Dafür brauchen wir ein völlig neu-
es Datenfundament: aktuell, konsistent, überall im Unternehmen synchronisiert. Das ist der eigentliche Kraftakt.
Sind die Menschen überhaupt bereit, sich auf KI einzulassen?
Baas: Davon bin ich überzeugt. Wenn der Assistent die nervigen kleinen Aufgaben des Alltags wie Termine vereinbaren, Formulare ausfüllen oder Bescheinigungen einreichen automatisiert erledigt, werden Menschen sich sehr schnell überzeugen lassen. Und es kommt noch die emotionale Komponente dazu: Wenn ich das Gefühl habe, dass mich mein digitaler Assistent wirklich versteht, kann er sich wie ein Freund anfühlen.
Aber genau darin liegt doch eine Gefahr, oder?
Baas: Absolut. Wenn der Assistent alles weiß, alles organisiert und alles bewertet, wird er zur mächtigsten Instanz im Leben vieler Menschen. Und weil diese Systeme meist von wenigen großen Tech-Konzernen kommen, besteht die Gefahr von Manipulation, Verzerrung, wirtschaftlichen Interessen. Es braucht klare Regeln, Regulierung – und Bildung, um damit kritisch umgehen zu können.
Welche Rolle spielt KI im Bereich Prävention?
Baas: Eine revolutionäre. Zum ersten Mal können wir Prävention personalisieren. Statt allgemeinen Ratschlägen können wir sagen: „Deine Daten zeigen, dass du mit 30 Minuten Bewegung am Tag dein Risiko für Diabetes halbierst.“ Das ist zielgenau und effizient – und für Krankenkassen bieten sich ganz neue Möglichkeiten, Versicherte individuell zu unterstützen. Es geht dann nicht mehr nur darum, Krankheiten zu heilen, sondern präventiv daran zu arbeiten, dass sie gar nicht erst entstehen.
Apple, Google & Co. drängen auch ins Gesundheitssystem. Wird es bald Krankenkassen aus Kalifornien geben?
Baas: Die Tech-Konzerne haben enormen Zugang zu Gesundheitsdaten – durch Smartwatches, Apps, Geräte. Aber: Wollen wir als Gesellschaft, dass sensibelste Daten von kommerziellen Firmen verwaltet werden? Ich glaube nicht. Wir als gesetzliche Krankenkassen sind reguliert, transparent, gemeinwohlorientiert. Aber wir müssen mit der Zeit gehen und technisch modernsten Service bieten, sonst gehen die Versicherten mit ihren sensiblen Daten zu kommerziellen Anbietern.
Wie sieht dann die TK der Zukunft aus?
Baas: Wir werden ein digitales Ökosystem aufbauen, das mit allen gängigen Endgeräten funktioniert. In diesem Ökosystem finden Kundinnen und Kunden individualisierte Angebote, die speziell auf ihre Bedürfnisse angepasst sind: Coaches, Gesundheitsprogramme, individuelle Empfehlungen.
Wie verändert das die Arbeitswelt in der TK?
Baas: Wir werden effizienter und mit der gleichen Anzahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mehr Versicherten besseren Service bieten können. Indem wir mehr Prozesse automatisieren, haben unsere Mitarbeitenden mehr Ressourcen für die komplexen, emotionalen Fälle.
Wie alt werden wir mit all diesen Entwicklungen?
Baas: Ich glaube, deutlich älter als heute – und dabei auch gesünder. Es gibt keinen Grund, warum wir in Deutschland nicht mehrere Jahre Lebenserwartung aufholen sollten. Die Mittel sind da, wir müssen sie nur klug nutzen.