Der Krankenstand in Deutschland und vielen Teilen Europas steigt – und zwar so stark, dass Unternehmen die Entwicklung nicht mehr als vorübergehenden Effekt der Pandemie abtun können. Die Zahlen sind eindeutig, der Trend klar: Beschäftigte fehlen häufiger, öfter und länger. Für Arbeitgeber bedeutet das: Produktivität, Planungssicherheit und Teamstabilität stehen zunehmend unter Druck.
Deutschland: Ein deutlicher Anstieg – und seine Ursachen
Deutsche Beschäftigte fehlten 2024 im Schnitt 17,7 Tage (TK, Jan–Nov). Vor der Pandemie waren es 14,1. Einzelne Quartale erreichten mit Krankenstandsquoten von 5,8 % historische Rekordwerte – das entspricht 58 von 1.000 Beschäftigten, die an einem durchschnittlichen Tag krankgeschrieben sind (DAK).
Zusätzlich zeigt Destatis: Die ausgefallenen Arbeitsstunden pro Kopf sind seit 2021 massiv gestiegen – von 68 auf 91 Stunden. Ein Plus, das die wirtschaftliche Belastung noch klarer macht.
Die Hauptgründe dieses Anstiegs:
- Atemwegsinfekte (kurz, aber häufig)
- Psychische Erkrankungen
- Muskel-Skelett-Beschwerden
Damit verändern sich auch die Muster: Nicht mehr nur die klassische Grippewelle sorgt für Ausfälle – Ermüdung, Stress, körperliche Überlastung und psychische Belastungen werden zunehmend zum Treiber.
Europa zeigt das gleiche Bild – nur früher und deutlicher
Die EZB weist für Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien zwischen 2021 und 2022 einen Anstieg der Fehlzeiten von 10–30 % aus.
- Italien: +34 %
- Spanien: +30 %
- Frankreich: +11 % mehr Beschäftigte mit mindestens einem Krankheitstag
Vor allem kurzfristige, aber häufige Krankschreibungen haben stark zugenommen. Das heißt: Personal ist plötzlich und unplanbar nicht verfügbar – die schwierigste Form des Ausfalls für Unternehmen.
Der entscheidende Blick: Welche Branchen besonders betroffen sind
Für Arbeitgeber lohnt der differenzierte Blick in die Belegschaft, denn die Krankheitslast verteilt sich nicht gleich.
Hochrisiko-Branchen
Hier liegen die Krankenstandsquoten bei 7–7,5 % – deutlich über dem Durchschnitt:
- Gesundheits- und Sozialwesen
- Öffentliche Verwaltung / Sozialversicherung
- Energie, Wasser, Entsorgung, Bergbau
Auch überdurchschnittlich betroffen:
- Verarbeitendes Gewerbe
- Metallindustrie
- Verkehr und Transport
Der Grund: körperliche Belastung, Schicht- und Nachtarbeit, hohe Kundenkontaktintensität, Unfallrisiken und psychosozialer Stress.
Lange Falldauern (über 20 Tage pro Fall) dominieren besonders in:
- Land- und Forstwirtschaft
- Baugewerbe
- Verkehr / Transport
Hier wirken Muskel- und Skeletterkrankungen sowie Unfälle als treibende Faktoren.
Branchen mit niedriger Krankenlast
Deutlich unterdurchschnittlich – bei 4–4,5 % Krankenstand – liegen:
- Banken
- Versicherungen
- Datenverarbeitung / IT
- Wissensintensive Dienstleistungen
Hier sind Arbeit besser planbar, körperliche Belastungen geringer, die Ausfallmuster etwas stabiler – dafür spielen andere Risiken (Präsentismus, mentale Belastung, ständige Erreichbarkeit) eine wachsende Rolle.
Was Unternehmen jetzt konkret tun müssen
Der steigende Krankenstand ist kein HR-Randthema mehr. Er entscheidet darüber, ob Teams funktionieren, ob Kunden zuverlässig bedient werden und ob Unternehmen resilient durch volatile Zeiten kommen.
1. Belastungsanalysen statt Bauchgefühl
Branchen unterscheiden sich massiv – und damit auch die Ursachen. Unternehmen sollten jährlich prüfen:
- Wo steigen Fehlzeiten?
- Welche Tätigkeiten, Teams oder Funktionen sind betroffen?
- Welche Krankheitsarten dominieren?
Die großen Kassen (AOK, DAK, TK) bieten dafür detaillierte Branchenreports.
2. Ergonomie, Sicherheit und Prävention in körperlich belastenden Berufen
Besonders wichtig in: Bau, Logistik, Produktion, Pflege, Verkehr.
- technische Entlastung (Hilfsmittel, Automatisierung)
- ergonomische Arbeitsplätze
- Unfallprävention
- ausreichend Pausen
- realistische Schichtpläne
- Mindestbesetzungen
3. Psychische Gesundheit als Führungsaufgabe
Auffällig hohe Quoten in:
- Erziehung & Unterricht
- Öffentliche Verwaltung
- Pflege
- Wissensarbeit (Präsentismus & Overload)
Wirksam sind:
- entlastende Teamstrukturen
- klare Verantwortlichkeiten
- Führungskräftetraining zu psychischer Gesundheit
- Resilienzprogramme
- Grenzen der Erreichbarkeit definieren
4. Schichtarbeit neu denken
In vielen Branchen ist die Taktung das Hauptproblem.
Lösungen:
- mehr Wahlfreiheit in der Schichtplanung
- verlässliche Dienstpläne
- digitale Schichttools
- zusätzliche Pufferbesetzung
- rotierende statt starre Belastungsverteilung
5. Präsenzkultur hinterfragen
In Büro- und IT-Berufen ist der Krankenstand zwar niedrig – aber Präsentismus hoch.
Das führt langfristig zu:
- höheren Risiken für psychische Erkrankungen
- sinkender Produktivität
- verdeckter Überlastung
Effektive Maßnahmen:
- klare Regeln zur Nichterreichbarkeit
- Kultur der offenen Kommunikation
- gesundheitsorientiertes Performance-Management
Fazit: Gesundheit wird zum Standortfaktor – für jedes Unternehmen
Der Anstieg der Fehltage ist kein Ausreißer, sondern eine strukturelle Veränderung. Für Arbeitgeber bedeutet das:
- klassische Gesundheitsmaßnahmen reichen nicht mehr
- psychische Belastung und kurze, häufige Ausfälle werden zum Kernproblem
- Branchen müssen individuell reagieren
- Führung, Organisation und Arbeitsgestaltung sind entscheidend
Kurz gesagt:
Gesundheit ist nicht mehr Kostenfaktor – sondern Wettbewerbsfaktor.
Unternehmen, die das früh erkennen, gewinnen. Alle anderen verlieren Fachkräfte, Produktivität und Resilienz.
