DUP UNTERNEHMER-Magazin: Sie kritisieren, dass die Europäische Kommission das Lieferkettengesetz und die Nachhaltigkeitsberichterstattung verschieben möchte, um Bürokratie abzubauen. Ist der Green Deal in Gefahr?
Anna Cavazzini: Absolut. Der erste Omnibus-Vorschlag betrifft drei zentrale Gesetze des Green Deals und vor allem das Lieferkettengesetz wird im Kommissionsvorschlag stark abgeschwächt. Ich kritisiere zunächst die Art, wie der Omnibus auf die Schiene gesetzt wurde. Am beunruhigendsten ist jedoch, wie diese Reform vorangetrieben wurde. Es berücksichtigt weder die Erfahrungen noch die Bewertung der Gesetze, die noch nicht einmal vollständig in Kraft getreten sind. Viele Unternehmen melden sich, haben sich auf diese Gesetze vorbereitet und sind nun verunsichert: Kommt das Gesetz doch nicht?
Das Chaos-Verfahren der Kommission zerstört Vertrauen in die Planungssicherheit. Außerdem ist der Vorschlag der EU-Kommission Deregulierung unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus. Es ist wichtig, Berichtspflichten zu vereinfachen und insbesondere kleine Unternehmen zu entlasten. Wenn aber nicht nur die Umsetzung des EU-Lieferkettengesetzes verzögert wird, sondern auch die zivilrechtliche Haftung extrem abgeschwächt und die Sorgfaltspflichten nur auf die ersten Zulieferer reduziert werden, dann bleibt nur noch eine leere Hülle. Dies ist das erste von vielen Omnibus-Gesetzen und es schafft einen Präzedenzfall. Wenn ich sehe, wie voreilig die Kommission agiert, mache ich mir ernsthafte Sorgen um die Zukunft des Green Deals.
Die Konservativen erwägen offen, den Omnibus mit den Stimmen der Rechtextremen zu verabschieden, anstatt einen Kompromiss mit den anderen demokratischen Fraktionen zu suchen. Das ist äußerst besorgniserregend. Bürokratieabbau ist Konsens und politische Priorität. Doch wir müssen genau definieren, was wir darunter verstehen. Unternehmen können gezielt entlastet werden, ohne unsere gesetzlichen Standards und unser hohes Schutzniveau für Verbraucherinnen und Verbraucher und die Umwelt runterzuschrauben. Für politische Maßnahmen, die auf Fakten und Strategien basieren, müssen wir stattdessen mit Praxis-Checks starten: Wo überlappen sich Gesetze, wo sind Unklarheiten bei den zuständigen Behörden, wo entstehen Dopplungen und Widersprüche? Die Probleme, die wir in der Praxis identifizieren, müssen wir schnellstens angehen, nicht von oben herab vorgefertigte Scheinlösungen präsentieren.
Was bedeuten die Verzögerungen für Unternehmen, die bereits in nachhaltige Lieferketten investiert haben – drohen ihnen nicht Wettbewerbsnachteile?
Cavazzini: Der Omnibus sendet ein schlechtes Signal an Unternehmen: Die EU ist unzuverlässig. Es untergräbt das Vertrauen in die EU-Gesetzgebung. Nachhaltige Vorreiter benötigen gleiche Wettbewerbsbedingungen, um den unfairen Wettbewerb mit solchen Unternehmen zu beenden, die die Kosten senken, indem sie Dumping betreiben. Einheitliche Standards für die soziale Verantwortung von Unternehmen können den derzeitigen Wettlauf nach unten bremsen. Unternehmen, die bereits in Nachhaltigkeitsberichtssysteme und Sorgfaltspflichten investiert haben, sind besser vorbereitet, Risiken zu minimieren und schnell auf Marktstörungen zu reagieren.
Sie sind daher als Geschäftspartner attraktiver. Ihre Lieferketten sind resilienter. Es ist jedoch wichtig, dass Unternehmen, die eine Vorreiterrolle einnehmen, Vorteile aus ihren Investitionen erzielen können. Ein Rückschritt durch eine Verwässerung der Richtlinien würde diese Bemühungen entwerten. Ich möchte noch einmal betonen, dass übermäßige Bürokratie nicht die Hauptursache für die aktuelle Schwäche der deutschen Wirtschaft ist. Zu den akuten Problemen gehören hohe Energiepreise, mangelnde Innovationen, drohende Handelskriege, unlauterer Wettbewerb durch stark subventionierte Produkte aus China und mangelnde öffentliche Investitionen in den letzten Jahrzehnten. Den Green Deal als Sündenbock darzustellen, ist ein Schuss ins eigene Knie. EU-Unternehmen, die in die Falle tappen und Nachhaltigkeit ignorieren, werden den globalen Anschluss verpassen.
Sie kritisieren, dass die EU-Kommission dem Druck von Lobbyisten nachgibt, zu Lasten kleinerer Unternehmen. Wie könnte der Bürokratieabbau insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) klappen, ohne die notwendige Regulierung in Bereichen wie Klimaschutz und Menschenrechte zu vernachlässigen?
Cavazzini: Die Botschaften, die mir Unternehmen senden, sind viel nuancierter als das, was die Kommission und die Konservativen zum Ausdruck bringen. Ich habe Dutzende von Briefen von Vorreitern und nachhaltigen Unternehmen erhalten, die über die Radikalität des Omnibus-Vorschlags entsetzt sind. Von KMU über mittelständische Unternehmen bis hin zu multinationalen Konzernen. Ein Großteil der Frustration von KMU in Deutschland ist auf das deutsche Lieferkettengesetz zurückzuführen. Mehrere zentrale Probleme sollten durch das neue europäische Gesetz behoben werden, das nun vor seinem Inkrafttreten demontiert wird.
Es gab viele Möglichkeiten zur Vereinfachung ohne Deregulierung. Die Kommission hätte große Unternehmen sofort daran hindern können, die Berichtslast auf ihre Midcap- und KMU-Lieferanten abzuwälzen, indem sie eine standardisierte und vereinfachte Berichterstattung digitalisiert, bündelt und verallgemeinert. Eine einfache Lösung, um zu verhindern, dass KMU seitenweise verwirrende Informationen ausfüllen müssen, obwohl sie eigentlich nicht in den Geltungsbereich der Gesetze fallen. Leider hat sich die Kommission nicht für diesen Weg entschieden. Der Gesetzgebungsprozess hat gerade erst begonnen: Unternehmen, die sich um Nachhaltigkeit bemühen, haben noch die Chance, gehört zu werden, aber dafür ist es an der Zeit, lauter zu werden.